: „Ein Kult von Gewalt“
Nach Kannibalismus-Reportage droht russisches Parlament mit Zensur von TV-Sendern
Der Text lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Die nationalen Fernsehsender beschädigten die öffentliche Moral. Sie sollten Maßnahmen ergreifen, um die Verbreitung zynischer und verletzender Informationen zu verhindern, die einen Kult von Gewalt und Grausamkeit propagieren, heißt es in einem Papier, das das russische Parlament vor wenigen Tagen mit 417 Stimmen bei einer Gegenstimme verabschiedete.
Stein des Anstoßes war eine Reportage über Kannibalismus in Russland, die der Sender NTV Ende vergangenen Monats ausgestrahlt und damit hohe Einschaltquoten erzielt hatte. „Blut, verstümmelte Körper – das war widerliches Filmmaterial. Solche Sendungen können nicht nur die Psyche von Kindern, sondern auch von Erwachsenen schädigen“, zitierte die Zeitung Gaseta die Abgeordnete Ljubow Sliska von der kremltreuen Partei Vereinigtes Russland.
Sliska, die das Duma-Papier initiiert hatte, forderte die nationalen Fernsehsender auf, sich an die „Charta gegen Gewalt und Grausamkeit im Fernsehen“ zu halten. Das Dokument geht auf eine Initiative des Kreml zurück und war von den Chefs der sechs nationalen TV-Sender am 7. Juni 2005 unterzeichnet worden. Darin verpflichten sich die Programmmacher, „freiwillig“ auf die Ausstrahlung von extremi-stischen Aufrufen sowie Beiträgen mit gewalttätigem oder pornografischem Inhalt zu verzichten.
Gegenüber Journalisten wurde Sliska noch deutlicher. Die Duma bereite sich darauf vor, gegen die Sender entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, bis hin zu einer Einschränkung der Berichterstattung. Zudem behalte sich das Parlament vor, die Gesetze über Medien und Reklame zu überarbeiten.
Der Versuch des Staates, die Medien zu gängeln oder im Extremfall gleich ganz abzuschalten, hat in Russland Methode. In den vergangenen Wochen befasste sich der Kulturausschuss der Duma in Anhörungen mit der Frage gesetzlicher Regelungen von kulturellen und moralischen Werten in den Massenmedien. Anschließend empfahlen Mitglieder des Ausschusses der Regierung, die russischen Medien und Kinos von „Sex, Gewalt und ausländischen Produktionen zu säubern“ und stattdessen eine patriotische Berichterstattung finanziell zu unterstützen.
Im Dezember nimmt eine neue Kammer ihre Arbeit auf. Deren Mitglieder sollen darauf hinarbeiten, die „öffentliche Kontrolle über die Medien auszuweiten“. „Die Kammer wird sich um die unabhängigen Medien kümmern und sie unterstützen“, sagte Präsident Wladimir Putin unlängst sybillinisch. Einen Teil der Kammermitglieder ernennt er selbst. Barbara Oertel