ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Post aus der Vergangenheit

Hirschkäfer waren die Hubschrauber der Insektenwelt. Leider haben sie Flugverbot

Hin und wieder schickt mir meine Mutter aus der fernen Pfalz ein Päckchen in die Hauptstadt. Mal ist es tonnenschwer und mit Süßigkeiten gefüllt, mal federleicht und vollgestopft mit den hässlichsten Pullovern, die „Fruit Of The Loom“ jemals hergestellt hat. Wie Mütter eben so sind.

Neulich am Telefon erzählte ich meiner Mutter von der geradezu biblischen Marienkäferplage, die mein Wohnzimmer heimgesucht hat. Nichts gegen Marienkäfer, niedliche Kerle. „Und so nützlich!“, meinte Mutter. „Schon, aber nicht in diesen Mengen!“, schimpfte ich: „Das ist eine Invasion!“ Meine Notlage brachte Mutter wohl auf eine Idee: „Ich schick dir was, das wird dir gefallen! Ich hab’s gestern auf dem Dachboden gefunden, bei Opas alten Sachen …“

Eigentlich hatte mein Großvater immer Biologie studieren und dann Förster werden wollen. Ein friedlicher Beruf, der seinem liebenswerten Gemüt sehr entgegengekommen wäre. Mehr jedenfalls als Überfälle auf die Sowjetunion und anderen Quatsch, den das Leben für ihn vorgesehen hatte. Nach dem Krieg lernte er Koch, um seine Familie zu ernähren – und litt zeitlebens an seinem unerfüllten Berufswunsch wie an einer verschleppten Grippe.

Mit seiner romantischen Begeisterung für Wald und Wiesen hatte er natürlich bald auch seinen Enkel angesteckt. Meine Freunde schauten nachmittags „Biene Maja“ oder rückten Kröten mit rektal eingeführten Strohhalmen zuleibe, um sie so lange aufzublasen, bis sie endlich – patsch! – zerplatzten.

Von diesen Freunden sonderte ich mich bald ab, wurde sonderlich, hielt die Biene namens Maja ganz klar für einen Jungen und verbrachte die sonnigsten Tage meiner Kindheit mit der Beobachtung irgendwelcher Insekten, die mir über den Weg kreuchten oder fleuchten.

Zwar freute ich mich an Maikäfern, gruselte mich vor Tausendfüßlern und bestaunte Schmetterlinge. Aber das absolute Highlight waren die Hirschkäfer, die jeden Spätsommer in Geschwadern über unseren Garten kamen wie die Helikopter in „Apocalypse Now“. Die Männchen trugen am Kopf ein gewaltiges (aber harmloses) Geweih, die Weibchen eine winzige (aber sehr schmerzhafte) Zange.

Weil die Hirschkäfer meistens in Kopfhöhe dahergebrummt kamen, konnte ich sie oft mit der bloßen Hand einfangen. Die spektakulärsten Exemplare zeigte ich stolz meinem Opa, der sie begeistert bestimmte und dann konfiszierte – wobei ich mir nichts Böses, wahrscheinlich aber rein gar nichts dachte. Was mein feiner Großvater mit den ihm anvertrauten Viechern anstellte? Würde schon in Ordnung sein. War es aber nicht.

Eines Tages brachte ich ihm einen extrem seltenen, außerordentlich schönen und vom Aussterben bedrohten Totenkopffalter. Mein Opa war begeistert! Mit leuchtenden Augen erklärte er mir zunächst, dass dieses erlesene Insekt womöglich direkt aus Madagaskar kam! Mit ruhiger Hand griff er dann nach einer Pinzette, zupfte ein wenig Watte, tunkte sie in Fläschchen mit Äther und betäubte damit sein zappelndes Opfer, um es in aller Seelenruhe auf eine Stecknadel zu spießen. Diese Stecknadel.

Wäre sie ihm entglitten, wir hätten sie fallen hören können – mit stummer Erschütterung blickte ich in einen menschlichen Abgrund: Offenbar war ich der hirnlose Handlanger eines herzlosen Monsters mit grausamen Vorlieben gewesen. Wir waren geschiedene Leute, einstweilen. 25 Jahre ist das nun her.

Kaum hatte ich mein Marienkäferproblem mit meiner speziellen Marienkäfermassenvernichtungswaffe aus der Welt gesaugt, da klingelte der Postbote. Das Päckchen von meiner Mutter, „handle with care“. Es handelt sich um einen flachen, schmucklosen Kasten. Mit Holzrahmen und einer Glasscheibe.

Was soll ich sagen? Die prachtvollsten Hirschkäfer meiner Kindheit, die buntesten Pfauenaugen und sogar der nachtgraue Falter mit dem Totenkopf, sie sind alle da, keiner fehlt, mit Stecknadeln fixiert für die Ewigkeit. Oder wenigstens für mich.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Fragen zur Plage? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN