: Die Liebe der Stadtneurotiker
INSZENIERUNG Fabian Hinrichs und René Pollesch suchen die Liebe und finden ein begeistertes Publikum. „Keiner findet sich schön“ ist ihr neuester Coup in der Volksbühne
VON ESTHER SLEVOGT
Nun ist René Pollesch endlich der Romantiker geworden, den wir schon immer in ihm vermutet haben: wenn er in seinen Stücken stets ebenso inbrünstig wie verzweifelt auf den vom Kapitalismus zugerichteten Benutzeroberflächen ehemaliger Individuen herumkratzte, um noch Restmenschen darunter zu finden. Auch wenn aus dem Mündern dieser Wesen dann doch immer nur die heiseren Schreie der neoliberalen Diskurse an unser Zuschauerohr drangen. Denn anders wussten Polleschs Theaterfiguren ihre Gedanken, Hoffnungen und Sehnsüchte nicht zu artikulieren. Spätestens jetzt aber wissen wir: Es ging eigentlich schon immer nur um die Liebe allein!
Ja, die Liebe! Denn was tut der großstädtische Zeitgenosse nicht alles, um hier die Erfüllung zu finden. Den Körper im Fitnessstudio auf marktfähiges Format trimmen. Auf Popkonzerten oder Partys nach der ultimativen Begegnung suchen. Alberne Frisuren und Klamotten tragen. Warten, schmachten, sehnen, Dating-Apps herunterladen und auf Algorithmen statt auf die alten Schicksalsgötter hoffen. Grindr, Tinder, Parship oder gar Gleichklang.de, das Dating-Portal für sozial und ökologisch interessierte Menschen (mit Veganer-Sektion!).
Doch am Ende: nichts. Öde One-Night-Stands. Einsamkeit. Und (zumindest wenn man noch einigermaßen zu Gefühlen in der Lage ist) good old Liebeskummer. Weil der Mensch beziehungsweise was der Kapitalismus von ihm übrig ließ, sich selber immer bloß als Ware denken kann, die es attraktiv zu dekorieren gilt. Aber eben nur die äußere Hülle, die nur höchst notdürftig die innere Leere bedecken kann. Oder so.
Der Mensch, das ist im vorliegenden Fall und auf der großen Bühne der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz der Schauspieler Fabian Hinrichs. Hinrichs, dessen gewitzte wie linkische Poesie schon frühere Pollesch-Abende – „Kill your Darlings“ (2012) und zuerst „Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“(2010) — mit einem unvergleichlichen Schmelz überzog. „Keiner findet sich schön“ ist der jetzige Abend deprimiert überschrieben, passend zum „Das-Leben-ist-ein-Casting-Format“-Diskurs.
Rundherum hängt ein gigantischer schwarz funkelnder Lamettavorhang, der manchmal im Scheinwerferlicht in leidenschaftlichem Dunkelrot aufleuchten kann. Bühnenbildner Bert Neumann hat mit solchen Mega-Lametta-Vorhängen den postironischen wie neoromantischen Pollesch-Abenden zwischen Berlin und Zürich in den letzten beiden Jahren schon öfters eine kongeniale Rahmung verschafft. Nicht fehlen darf natürlich auch ein ebenso absurdes wie überdimensioniertes Requisit: Diesmal ist es ein aufblasbarer weißer Riesenteddy aus Plastik, auf dessen Bauch und Rücken in roter Volksbühnenfraktur „No Fear“ zu lesen ist.
Zunächst liegt die Plastikhülle als weißes Stoffmassiv noch formlos auf der Bühne – und Hinrichs beziehungsweise der liebes- und erfahrungshungrige Stadtneurotiker 4.0, den er hier mit selbstironischer Hingabe präsentiert, legt sich immer wieder darin kurz zur Ruhe: kleine Pausen, die den Redeschwall des ansonsten rastlos über die Bühne Tigernden phrasieren.
Auf der Hälfte des Abends ist es dann klar: Zwischen all den geöffneten Erlebnisfenstern und Entscheidungssträngen (“zwei bis hin zu 120.000 Strängen“) kam das Leben irgendwie abhanden (beziehungsweise erschien gar nicht erst). Die ganzen Optionen, die die Freiheit bietet, will er auch gar nicht, „sondern nur dich!“. Plötzlich bläst sich das diffuse Stoffmassiv zum megalomanen Talisman aller Infantilisierten und in ihrer öden ewigen Jugend Eingefrorenen auf. Fast wird der Schauspieler darunter begraben, der das Ding dann nur unter Aufbietung sämtlicher Körperkräfte aufzurichten vermag.
Ja, diese leere Bühne
Zwischendurch tanzen fünf Tänzerinnen und Tänzer Choreografien aus der „Westside-Story“ nach, dieser Romeo-und-Julia-Version des Early-Pop-Age. „Rest-Side-Story“ lässt Pollesch Fabian Hinrichs gegenwartsbezogen witzeln. Die blauen, weiß gestirnten Trainingsanzüge der Tänzer ergänzen sich mit dem rot-weiß gestreiften Bühnenboden zum popkompatiblen Kapitalismussymbol der Stars-and Stripes-Flagge.
Ja, diese große, leere Bühne, sie schreie nach dem anderen, dem „Du“, ruft Hinrichs gegen Ende sehr verzweifelt und schielt kokett ins Publikum. Dort aber hat er dieses andere, das erhoffte „Du“ in seinem Publikum längst gefunden. Ein begeistertes sogar.
Wieder am 1. und 8. 7., jeweils 19.30 Uhr, in der Volksbühne
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