: Der denunzierte Sozialstaat
Am 17. Oktober 2005 erschien die Bild-Zeitung unter Berufung auf einen Report des Hauses von Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement über Fälle des Leistungsmissbrauchs unter dem Aufmacher „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! … und wir müssen zahlen“. In dem Artikel des größten deutschen Boulevardblatts heißt es: „Bei Hartz IV wird gnadenlos abgezockt.“ Durch die Aufführung der „schlimmsten Fälle“ erweckt man den Eindruck, als handle es sich nicht um zum Teil kuriose Ausnahmen, sondern um die Spitze eines Eisberges. Genau eine Woche später zog der Spiegel mit einer Titelgeschichte „Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“ nach. Darin distanzierte man sich zwar von den „knalligen Berichten“ der Boulevardpresse, führte das „Finanzdebakel“ der mit dem Namen Peter Hartz verbundenen Arbeitsmarktreform aber gleichfalls auf die massenhafte, wenn auch nicht immer missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zurück. Sabine Christiansen stieß ins selbe Horn, als sie die Teilnehmer/innen ihrer Talkshow am letzten Sonntag zum Thema „‚Melkkuh‘ Sozialstaat – sind wir ein Volk von Abzockern?“ diskutieren ließ und die sich ihrer Meinung nach nicht nur unter Erwerbslosen ausbreitende „Mitnahmementalität“ geißelte.
Der deutsche Wohlfahrtsstaat, heißt es allenthalben, sei zu teuer. Als einer der Gründe, weshalb der Sozialstaat zumindest in seiner bisherigen Form nicht mehr zu halten sei, wird meist angeführt, dass er in seiner Leistungsgewährung zu freigiebig sei, was ihn finanziell überfordere. Die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung zeigt, dass die Bundesrepublik – entgegen den dominanten Medienbildern – keineswegs den „großzügigsten“ europäischen Sozialstaat besitzt, sondern hinsichtlich der Leistungsgewährung unter den 15 alten EU-Ländern im unteren Mittelfeld (Platz 8 oder 9) rangiert. Vernachlässigt man die Sonderentwicklung der Belastung durch Sozialtransfers von West- nach Ostdeutschland seit 1989/90, ergibt sich ein Bild, das mit der medialen Horrorvision eines „Gefälligkeitsstaates“ sehr wenig zu tun hat.
Durch die „Sparpolitik“ der von 1982 bis 1998 regierenden CDU/CSU/FDP-Koalition und den mit relativ wenigen Abstrichen fortgesetzten Ausbau anderer Wohlfahrtsstaaten fiel die Bundesrepublik seither so weit zurück, dass sie nunmehr gerade noch das allgemeine OECD-Niveau erreicht.
Betrachtet man die Entwicklung der deutschen Sozialleistungsquote (Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt) über längere Zeit hinweg, erkennt man ein hohes Maß an Kontinuität. Trotz erheblicher Zusatzbelastungen durch die deutsche Vereinigung, regionale Ungleichgewichte, die Massenarbeitslosigkeit und milliardenschwere Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland ist die Sozialleistungsquote heute nicht höher als Mitte der 1970er-Jahre. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Metapher vom Wohlfahrtsstaat, der sich wie ein Krake über die Gesellschaft legt und deren ökonomische Dynamik erstickt, pure Ideologie ist.
In den Mittelpunkt der Diskussion über Wohlfahrtsstaats- und Demokratieentwicklung rückten seit Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre „Abzocker“, „Sozialschmarotzer“ und „Parasiten“, die allmählich zu Hauptfeindbildern des neokonservativen beziehungsweise neoliberalen Zeitgeistes avancierten. Zuerst wurden Flüchtlinge im Rahmen einer jahrzehntelangen Kampagne zu „Asylmissbrauchern“ und Verursachern der Überlastung des Sozialstaates gemacht, nach Abschaffung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 und Absenkung ihres Lebensniveaus unter die Sozialhilfe durch das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 übernahmen Sozialhilfeempfänger/innen die Rolle des Sündenbocks.
Gleichzeitig fand in zahlreichen Massenmedien ein sozialpolitischer Paradigmawechsel statt: Hatten sie den deutschen Wohlfahrtsstaat früher meist als vorbildlich hingestellt und zum Modellfall für die ganze Welt hochstilisiert, galt er ihnen fortan als historisches Auslaufmodell. Exemplarisch sei aus einem Leitartikel der Zeit vom 20. Mai 1999 zitiert: „Der Sozialstaat, einst Stolz der Westdeutschen, ist bald nicht mehr zu bezahlen. (…) Der Sozialstaat ist unsozial geworden. Er versagt, weil er zuviel verspricht. Er belastet den Faktor Arbeit, schafft Arbeitslosigkeit.“ Unsozial ist allerdings nicht der Sozialstaat, vielmehr eine Gesellschaft, die sich seiner mit der Begründung zu entledigen sucht, er sei nicht mehr finanzierbar, obwohl sie – ausweislich des Bruttoinlandsprodukts, das Rekordhöhe erreicht hat – so reich ist wie nie zuvor.
Journalist(inn)en benutzten zum Teil manipulative Methoden, wenn es galt, „Sozialkriminalität“ zu skandalisieren und in einer Art zu präsentieren, die den Wohlfahrtsstaat als „Selbstbedienungsladen für Arbeitsscheue“ erscheinen lässt. Statt seine große soziale wie kulturelle Bedeutung zu würdigen und über viele (neue wie noch immer nicht geschlossene) Leistungslücken zu berichten, denunzierten ihn die meisten Publizisten zunehmend als Last, der man sich möglichst bald entledigen müsse, um die internationale Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik zu erhalten oder wieder herzustellen. Zitiert sei aus einem Spiegel-Artikel vom 20. Juli 1998, welcher konstatiert, der „Sozialstaat deutscher Prägung“ sei „kein Modell mit Zukunft“ mehr: „Er ist zum Monstrum geworden, das an seiner eigenen Größe zu ersticken droht. Der deutsche Sozialstaat ist unbezahlbar. Er macht die Bürger unfrei, über ihr Einkommen selber zu befinden, und erzieht sie zum Anspruchsdenken. Vor allem aber: Er ist zutiefst ungerecht, weil er seine Leistungen oft willkürlich und nicht selten an den wirklich Bedürftigen vorbei verteilt, und spätestens dies wird ihn auf Dauer ruinieren, denn gerecht zu sein gilt von jeher als sein oberstes Gebot.“
Der moderne Wohlfahrtsstaat wurde und wird dadurch diskreditiert, dass die Massenmedien einzelne, meist besonders spektakuläre Fälle des Missbrauchs von Sozialleistungen generalisieren, ohne sein normales, für Arbeitslose, Arme, Alte, Kranke, Behinderte, Pflegebedürftige und andere Benachteiligte unverzichtbares und überwiegend segensreiches Funktionieren zu thematisieren. In der Boulevard- und Lokalpresse werden Personen, die sie als „Sozialschmarotzer“ entlarvt zu haben glaubt, häufig mit einprägsamen Spitznahmen wie „Florida-Rolf“ oder „Viagra-Kalle“ belegt, manchmal regelrecht vorgeführt und gleichzeitig zu „guten Bekannten“ der Leser/innen. So berichtete die Bild-Zeitung im Sommer 2003 nicht weniger als 19-mal über einen 64-jährigen Deutschen, der als suizidgefährdeter Rentner und Ex-Banker in Miami (Florida) von Sozialhilfe lebte. Der mediale Druck veranlasste die rot-grüne Regierung, binnen kürzester Zeit schärfere Regeln für den Sozialhilfebezug im Ausland zu beschließen, obwohl 2002 bei Gesamtkosten von ca. 4,3 Millionen Euro nur 959 Personen betroffen waren, darunter viele Jüdinnen und Juden, denen man nach 1945 nicht zumuten wollte, wieder nach Deutschland zu ziehen.
Durch die sinkende Geburtenrate der Deutschen und die steigende Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts komme es, so wird oft suggeriert, allmählich zu einer „Vergreisung“ der Bundesrepublik, die das ökonomische Leistungspotenzial des Landes schwäche und die sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Pflege- und Krankenversicherung) strukturell überfordere. Dem könne man nur mittels einer (Teil-) Privatisierung auf der Beitrags- und/oder einer Leistungsreduzierung auf der Kostenseite begegnen.
Die demografischen Entwicklungsperspektiven werden in der Öffentlichkeit und den Medien zu einem wahren Schreckensszenario verdüstert. Welche Blüten das Bemühen um eine Dramatisierung des Themas treibt, zeigt ein Beitrag in der Börsen-Zeitung vom 20. Februar 2003, welcher „Die deutsche Wirtschaft unter dem demographischen Fallbeil“ betitelt war. Damit führte man einen ultrarechten Diskurs fort, den die Sorge um das vom Aussterben bedrohte deutsche Volk leitet. Dabei hielt die Demografie einmal mehr als Mittel der sozialpolitischen Demagogie her: Hatte man zu Beginn der 1990er-Jahre im Rahmen einer kampagnenartig geführten Asyldiskussion noch die Angst vor einer „Überflutung“ und „Überfremdung“ geschürt, so wurde im Rahmen der Diskussion über die Krise des Sozialstaates die Angst vor einer „Vergreisung“ und der Entvölkerung Deutschlands benutzt, um die Kürzung von Transferleistungen plausibel zu machen. Oft beschwören dieselben Personen, denen das Boot voll erschien, das Schreckbild eines menschenleeren Landes herauf, in dem niemand mehr die Renten der Alten aufbringt.
Der in allen hoch entwickelten Industriestaaten, aber auch schon in vielen Ländern der so genannten Dritten Welt beobachtbare Geburtenrückgang und die gleichzeitige Verlängerung der Lebenserwartung infolge des medizinischen Fortschritts werden als ein „natürlicher“ Zwang zur Senkung des erreichten Niveaus der Altersversorgung hingestellt. Rentensicherheit ist aber keine Frage der Biologie (Wie alt ist die Bevölkerung?), vielmehr der Ökonomie (Wie groß ist der erwirtschaftete Reichtum?) und der Politik (Wie wird dieser Reichtum auf Klassen, Schichten und Altersgruppen verteilt?). Es fehlen nicht etwa (deutsche) Babys, sondern Beitragszahler/innen, die – dem „Generationenvertrag“ entsprechend – nach dem Umlageverfahren für eine wachsende Rentnerpopulation in die Versicherungskassen einzahlen.
Ohne die demografischen Probleme der Bundesrepublik zu verharmlosen, kann man feststellen, dass sie im Hinblick auf die Rentenversicherung weniger als oft behauptet ins Gewicht fallen, weshalb kein Grund zur Panikmache besteht und Hysterie völlig unangebracht ist. Viel entscheidender waren die Massenarbeitslosigkeit und die Eingliederung der DDR samt der damit verbundenen Kosten für die Sozialversicherungen. Der Sozialstaat wird nicht zuletzt dadurch diskreditiert, dass man seit Mitte der 1970er-Jahre über eine „Kostenexplosion“ vor allem im Gesundheitswesen debattiert, die es gar nicht gibt: Setzt man die Entwicklung der Ausgaben in Beziehung zum Bruttoinlandsprodukt, ist der Anstieg überhaupt nicht dramatisch.
Das (neo)liberale Standard- bzw. Standortargument gegen den Sozialstaat lautet, dieser gefährde die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft, etwa durch zu hohe Lohnnebenkosten. Infolge der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz müsse der „Standort D“ entschlackt und der Sozialstaat „verschlankt“ werden, wolle man die internationale Konkurrenzfähigkeit und das erreichte Wohlstandsniveau halten. Es wird so getan, als beeinträchtige das Soziale die Leistungsfähigkeit. Dabei sind fast alle auf dem Weltmarkt führenden Volkswirtschaften mehr oder weniger entwickelte Wohlfahrtsstaaten.
Das gesellschaftspolitische Rollback, den die SPD-geführte Bundesregierung spätestens seit Gerhard Schröders Agenda-2010-Rede im März 2003 gemeinsam mit dem bürgerlichen Lager bewerkstelligte, war nur möglich, weil sich die neoliberale Hegemonie zu jener Zeit immer stärker auch in den Massenmedien niederschlug. Die öffentliche Meinung wurde massiv im Sinne eines Sozialstaat, Staatsinterventionismus und Wohlfahrt als Hauptstörfaktoren für den „Standort D“ abqualifizierenden Marktradikalismus beeinflusst. Typisch dafür war die beliebte Talkshow mit Sabine Christiansen, in der man Sozialstaatlichkeit über Jahre hinweg durch das apokalyptische Bild eines vom Niedergang bedrohten Deutschland diskreditierte.
Für die Art und Weise, wie über den Sozialstaat gesprochen und geschrieben wird, kennzeichnend waren auch zahllose Medienberichte, die sich zum Jahreswechsel 2004/05 mit der Flutkatastrophe in Südostasien und deren Folgen befassten. Die ausufernde und oft geradezu voyeuristisch anmutende Tsunami-Berichterstattung verbreitete unterschwellig die entpolitisierend wirkende Botschaft, dass die Natur (also nicht die Gesellschaft) das Schicksal bestimmt. Außerdem ließ man häufig durchblicken, dass es „uns“ ja hier noch sehr gut geht, in der so genannten Dritten Welt jedoch Not und Elend herrschen. Tatsächlich ist (relative) Armut in der Bundesrepublik etwas ganz anderes als (absolute) Armut in Bangladesch oder Burkina Faso. Armut kann in einer reichen Umgebung gleichwohl erniedrigender, bedrückender und bedrängender sein als in einer armen Gesellschaft, wo sie eher zur Solidarisierung als zur Stigmatisierung der Betroffenen führt. Bei der Überschwemmung von New Orleans im Gefolge der Hurrikane „Katrina“ und „Rita“ zeigte sich im August/September 2005, dass Naturkatastrophen nicht alle Menschen einer Region gleichermaßen treffen – die soziale Situation der einzelnen Bewohnern hat vielmehr entscheidenden Einfluss.