Sauerampfer, Krautrock und deutsch-israelische Beziehungen auf Eis
: Koryphäen am Wirsingkohl

Ausgehen und Rumstehen

von Franziska Buhre

Das Kilo Sauerampfer würde er bekommen, hatte mir der Händler zugesagt. Denn Sonntag will ich die Suppe kochen, wie jedes Jahr an diesem Tag seit 2009. Freitagabend fahre ich mit dem Fahrrad von Steglitz zum Sowieso Neukölln. Peter Brötzmann gibt sich die Ehre, die DIY-Free-Jazz-Legende. S. ist schon da, wir stellen uns in die hinterste Ecke. Der Laden ist übervoll, unter den Gästen zählen wir vielleicht fünfzehn Frauen. Mit zeitlichem Verzug ergießt sich der Lärmschwall bis an unsere Ohren. Durchaus angenehm, dieser hohe Pegel von Trompete, Bass, Schlagzeug und dem alten Recken an den Saxofonen. Wir erkennen seine eigenwillige Stimme. Wie konnte dieser nunmehr historische Klang derart konserviert und heute exakt identisch aufgetaut werden, frage ich mich. Als wir merken, dass alle versammelten Penisse in eine Richtung zeigen – Peter Brötzmann –, er sich also stellvertretend für sie einen dauerabwichst, ist das erste Set auch vorbei, und wir ergreifen die Flucht. Schließlich wollen wir nicht nass werden.

Samstagmorgen fahre ich in einer Regenpause zum Markt in Lichterfelde-Ost. Zu Montag besorge er ihn wirklich, den Sauerampfer, sagt der Händler. Ich bin enttäuscht, und wir verabreden die Übergabe. Die zehn weißen Rosen bringe ich am Nachmittag auf den Friedhof und zünde ein Öllicht an. S. und ich fahren mit der S-Bahn raus zum Krongut Bornstedt nach Potsdam. „Jazz im Rosengarten“ nennt sich der Abend mit Konzerten und Rosen in Getränken, auf den Tischen, Musikbühnen und in gebundenen Kränzen auf den Köpfen. Nach einem Rundgang durch den Rosengarten erfreue ich mich am Trio aus Gesang, Klavier und Cello von Anke Jochmaring, Julia Hülsmann und Daniel Brandl, S. ist weniger angetan. Die frischen Temperaturen bekommen den Instrumenten des Vege­ta­ble ­Orchestra prächtig. Zu später Stunde klopfen zehn schwarz gewandete WienerInnen auf Kürbissen und ausgehöhlten Rettichen, schütteln Petersi­lienbüschel, blasen in Karottenflöten, lassen die Klatscher aus Auberginen klappern und später Bohnen und Zwiebeln eine steile Schanze herabrollen. Höhepunkt ist das Stück „Kraut­rock“: mit ­beherztem Ernst und unerschütter­licher Zeremo­nienmeisterschaft massakrieren vier Koryphäen je einen Wirsingkohl. Das vegetabile Spektakel ist Proto-Noise, Minimal Techno, Electro und House in seiner organischsten Form. Die anschließende Suppe, von den MusikerInnen gereicht, mundet köstlich. Der letzte Shuttlebus zurück zum Potsdamer Hauptbahnhof fährt, anders als verlautbart, nicht. Die Verantwortlichen des Festivals haben sich bereits verzogen, die Taxirufnummer ist besetzt. Nach mehr als einer Stunde steige ich am Rathaus Steglitz aus der S-Bahn, die deutsch-israelischen Beziehungen liegen auf Eis, und so fährt S. von dannen.

Sonntag, Sommeranfang. Heute hat mein Vater Geburtstag, 86 wäre er geworden. B. ist zu Besuch, vom Friedhof aus fahren wir in ihre Wohnung. Sie hat suppenfertigen Sauerampfer mitgebracht, also die kurz blanchierten und durch die Flotte Lotte zerkleinerten Blätter. Bevor sie die dicke, tiefgrüne Flüssigkeit zu den angeschwitzten Zwiebeln gießt, kochen die Kartoffeln, die Eier danach. Etwas Gemüsebrühe, Salz und Sahne dazu, Kartoffeln und Eier in die Suppe versenken, Letztere möglichst in Längshälften. Mein absolutes Leibgericht, seit Kindertagen. Abends gibt die Sängerin Jelena Kuljic mit der Band Z-Country Paradise im b-flat ihr vorerst letztes Berlinkonzert. Nach dem ersten Set bin ich traurig. Ihre funkelnde Präsenz wird fehlen in dieser Stadt. Wenn dieser Text erscheint, probt Kuljic an den Münchner Kammerspielen. Ich friere suppenfertigem Sauerampfer ein. An den Sommer glaube ich schon noch.