piwik no script img

Archiv-Artikel

Blonder Todesengel vor Gericht

ARGENTINIEN In Buenos Aires läuft ein Prozess gegen 17 Militärangehörige. Die Anklage lautet auf Menschenrechtsverbrechen unter der Militärdiktatur

BUENOS AIRES taz | In der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires hat der Prozess gegen 17 Militärangehörige wegen Menschenrechtsverbrechen während der letzten Militärdiktatur (1976–1983) begonnen. Den Angeklagten wird Mord, Entführung, Folter und Verschwindenlassen von Personen in mindestens 79 Fällen vorgeworfen.

Unter den Angeklagten ist auch der als „blonder Todesengel“ bekannte Kapitän Alfredo Astiz, 58. Lässig gekleidet saß er am ersten Verhandlungstag auf der Anklagebank. Als der vorsitzende Richter den ersten Verhandlungstag schloss, stimmten die Angehörigen der Opfer das bekannte „30.000 desaparecidos, presentes. Ahora y siempre“ (30.000 Verschwundene, hier! Jetzt und für immer) an.

Mit breitem Grinsen erhob sich Astiz in Richtung Publikum und hielt dabei das Buch „Volver a matar“ (Töte wieder) von Juan Bautista Yofre vor sich. Der Autor, Geheimdienstchef in den Jahren 1989 und 1990 unter dem damaligen Präsidenten Carlos Menem, schreibt darin über die gewaltsamen Auseinandersetzungen in den Jahren vor der Diktatur.

Bei dem am Freitag begonnenen Prozess handelt es sich um die sogenannte Megacausa ESMA, bei der die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen zusammengefasst sind, die von Angehörigen der Mechanikerschule der Marine ESMA begangen wurden. Die Mechanikerschule war das größte geheime Haft- und Folterzentrum in der Hauptstadt Buenos Aires. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dort mehr als 5.000 Menschen gefoltert wurden und verschwanden.

In dem Verfahren geht es auch um die Entführung und das Verschwindenlassen des Schriftstellers Rodolfo Walsh im März 1977 und der zwei französischen Nonnen Alice Domon und Leonie Duquet sowie der Gründerin der Mütter der Plaza de Mayo, Azucena Villaflor de Vincenti, im Dezember 1977. Die Leichen der drei Frauen wurden während der sogenannten Todesflüge ins Meer geworfen. Astiz hat stets angegeben, er wisse nichts von den Todesflügen.

Nach Meinung der Staatsanwaltschaft spielte Astiz jedoch eine wichtige Rolle bei der Verfolgung und dem Verschwindenlassen von Gegnern der Diktatur. Astiz hatte sich unter dem Namen Gustavo Niño als Angehöriger eines verschwundenen Dissidenten ausgegeben. So erschlich er sich den Zugang zu einer Gruppe von Müttern der Plaza de Mayo, die sich in einem Stadtviertel am Rand von Buenos Aires in der Kirche Santa Cruz trafen und nach ihren verschwundenen Männern und Kindern suchten. Im Dezember 1977 griffen die Militärs zu. Zwölf Menschen wurden verschleppt.

1990 wurde Astiz wegen des Mordes an den zwei Nonnen von einem französischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Das gleiche Urteil fällte ein italienisches Gericht 2007 wegen der Ermordung italienischer Staatsangehöriger. Eine Auslieferung hatte Argentinien in beiden Fällen abgelehnt.

Astiz profitierte von den Amnestiegesetzen und den von Präsident Carlos Menem erlassenen Begnadigungsdekreten. Im Juni 2005 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Aufhebung der Amnestiegesetze und machte damit den Weg für die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen frei. JÜRGEN VOGT