: Paradies der Unbeugbaren
Von Westberlin lohnt sich nicht mehr zu reden – aus und vorbei. Eine Frage bleibt: Wo sind die Westberliner geblieben? Sie leben in Reservaten wie der Kantine des Kreuzberger Finanzamts
VON JÖRG SUNDERMEIER
Westberlin gibt es nicht mehr. Fährt man über den Ku’damm oder versucht man auf ihm spazieren zu gehen – flanieren geht dort kaum noch –, so ist man in einer plastikbunten H&M-, Pimkie- und Görtz-Welt, in deren Mitte zwar die Komödie am Kurfürstendamm mitsamt Wolfgang Spier und Ralf Wolter tapfer um die Westberliner Seichtigkeit kämpft, doch schon im Januar wird dort mit Anna und Katharina Thalbach, die zudem in einer der schönsten Komödien von Oskar Wilde spielen, die renommierte, bedeutende Theaterkunst Einzug halten.
Die ein oder andere Nobelmarke hält am Ku’damm wacker für die Wilmersdorfer Witwen offen, doch wirkt sich diese Kundschaft arg auf das Angebot aus. Das Café Adlon ist passé, ebenso das Kranzler, der Filmpalast erglänzt nur selten in altem Glanz, und das überhaus hässliche Haus des ebenfalls geschlossenen Wachsfigurenkabinetts ist gleich gar nicht mehr da.
Die Gattung des Westberliners ist nicht mehr geschützt. In Spandau steigen jetzt des Öfteren Fremde aus und um, was schon so manch einer Spandauerin das Frühstücksbier am Bahnhofskiosk hat schal werden lassen. Neukölln ist gleich ganz türkisch geworden und schämt sich dafür nicht einmal, lediglich der Bürgermeister stänkert noch herum. Schöneberg wird wie Kreuzberg 36, das wiederum war bereits in den 80ern an die Chaoten verloren, die dort statt Beton Blumen haben wollten. Dort, wo sich die Chaoten durchgesetzt haben, sind sie inzwischen zu Computerexperten und Verbraucherschutzministerinnen mutiert – dafür freilich braucht es zumindest rudimentäre Englischkenntnisse. Die wiederum DARF ein Westberliner, gerade wenn er sich als Freund der Amerikaner ausgibt, nicht haben. Auch in Steglitz fühlt sich, Schlossstraße hin, Bierpinsel her, der Laubenpieper längst nicht mehr daheim. All das ist längst bekannt und erzählt, doch hat man sich eine, die nahe liegende Frage noch nicht gestellt: Wo sind sie denn alle hin, die Westberliner? Wo lebt der starrsinnige harte Kern, der noch heute glaubt, dass Fassbrause, und nur Fassbrause!, schmeckt?
Von den anderen, den „eigentlichen“ Verlierern der Geschichte, den Ossis also, weiß man, wohin sie sich zurückgezogen haben: Sie sitzen in Hohenschönhausen und Marzahn in ihren Plattenbauten, schauen scheu und verhuscht hinter den Gardinen hervor und trauen sich nur zum Linkspartei-Sommerfest heraus. Zu Recht, denn allerorten warten Häscher der Birthler-Behörde mit neuen Stasi-Enthüllungen, hinter jeder Ecke streichen Arbeitsamtspitzel herum, jedes Ostbier gehört heute Dr. Oetker, und Bautzner Senf war früher wirklich schärfer.
Was aber machen die, von denen man behauptete, man habe sie aus ihrer misslichen Umklammerungslage befreit? Die, denen nachgesagt wird, sie selbst wären qua Wohnort schon Freiheitskämpferinnen und -kämpfer gewesen, papstgleich und unbeugbar? Die Insulaner, die Ickes von Café Keese und Big Eden, die mit Hilfe der Amerikaner und Franzosen und Briten dem Russen trotzten und die Halbstadt vor allen schnell von Intellektuellen und jeglichem kulturellen Leben befreiten, in einer völlig neuartigen, unblutigen und doch proletarischen Kulturrevolution?
Haben sie sich in ihre Gartenkolonien verzogen, ernähren sie sich von heimlich gehorteten Berlinreserven und werden nur dann auffällig, wenn sie hin und wieder Leserbriefe an den Tagesspiegel schreiben? Nein, man findet sie dort, wo man nicht sucht, weil man dort nicht ist. Man findet sie in den Eckkneipen, die in Eckhäusern an Ecken sind, die man niemals aufsucht. In Immobilien, die, obschon alle Jahre neu gestrichen, so hartnäckig den Geist der 70er-Jahre beschwören, dass er tatsächlich in Erscheinung tritt.
Man findet sie also in der Kantine des Finanzamtes in Kreuzberg 61, in jenem unendlich hässlichen Bau am Mehringdamm, der als Kaserne die Kasernierten schon vor Eintritt das Fürchten lehren sollte, und der heutzutage, recht passend, die Steuerschergen beherbergt. Hat man sich durch das saubere, aber bedrückende 50er-Jahre-Treppenhaus in den zweiten Stock gequält, muss man langen Gängen folgen, in denen außer der Lacktapete in Braun-Beige-Gelb-Kombinationen nichts ist und steht und liegt, so dass man sich, sucht man ein Büro, recht bald vor lauter Gleichförmigkeit nicht mehr auskennt. Aufgebrochen werden soll die Atmosphäre von Bürowitzen, die vereinzelt an Korkmitteilungswände gepinnt sind und die entweder vom Büroschlaf handeln oder nur jene erfreuen, denen alles Sexuelle ein Tabu ist.
Dann endlich steht man vor der Kantine. Auch hier sind die weißen Wände gelb, Gardinen und ein Zigarettenautomat in rustikaler Aufmachung sollen für Gemütlichkeit sorgen. Zum selben Zwecke stehen Plastikblumen munter umher. Die Bedienungstheke ist aufgeräumt, weil ziemlich leer, der Wirt, der vielleicht auch Koch ist, ist freundlich, bittet aber darum, sich die Gläser selbst hinterm Tresen zu holen. Es gibt, ungewöhnlich für eine Kantine, ein Zeitungsangebot – allerdings stehen dem Kantinenleser nur Bild, B.Z. und Sport-Bild zur Verfügung.
Die so genannte deutsche Küche wird hier gekocht, was in Berlin grundsätzlich Imbissessen meint. Hier wird weiterhin Nachkriegsmittag gereicht, also etwa Schnitzel mit Pommes, wobei auf beidem ein großzügiges Stück Kräuterbutter drapiert ist. Salat sucht man vergebens. An einigen Tischen herrscht Rauchverbot, an den meisten jedoch nicht. Gern wird auch laut Skat gespielt. Geselligkeit ist oberstes Prinzip.
Für den Westberliner ist dies das ideale Lebensumfeld, folglich findet man Tag für Tag eine reichliche Anzahl älterer Männer und ab und an auch eine ergraute Frau. Sie alle rauchen und reden beim Essen, sind lederhäutig prall und rund und lassen ihre roten Bäckchen leuchten. Die Herren, die hier niemals von einer Krise der Männlichkeit vernehmen werden, tragen Ludwig-Erhard-Frisuren und sind damit tatsächlich das, was der designierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier schlecht parodiert. Ist etwas mit Diepgen geschehen, wird im Zoo geschnackselt, ist Heesters tot? Hier erfährt man es auch dann, wenn man es nicht wissen will, denn solche Nachrichten werden laut verlesen. In dieser Kantine ist Westberlin noch ganz bei sich. Hier kann man es betrachten, unverfälscht und ungetrübt. Das wird sich, solange die Dekoration bleibt und kein Rauchverbot kommt, auch nicht ändern.