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Archiv-Artikel

Der Pisa-Krampf

Nicht nur Forscher und Politiker, auch Journalisten ringen inzwischen darum, wie Pisa zu interpretieren ist. Mit sehr harten Bandagen

„Wer ordentlich recherchiert, produziert keine Falschmeldungen“

VON CHRISTIAN FÜLLER

Als Kultusminister und Pisa-Forscher vergangene Woche die neueste Wasserstandsmeldung für die deutschen Schulen abgaben, sprachen sie wenig über die frische Pisa-Studie, aber viel über einen Journalisten. Es gehe darum, dessen tendenziöse Vorabveröffentlichungen zu widerlegen, hob Präsidentin Johanna Wanka an. Und auch Pisa-Chefforscher Manfred Prenzel war bemüht, den Eindruck zu konterkarieren, den die Deutsche Presse-Agentur erzeugt hatte.

Die Agentur hatte die gut gehüteten Pisa-Daten schon vorab spitz bekommen. Und meldete am vorvergangenen Sonntag: „Die Chancenungleichheit in den deutschen Schulen nimmt weiter zu.“ Ein 15-jähriger Schüler aus reichem Elternhaus habe bei gleicher Intelligenz und Wissensstand eine viermal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen, wie ein Gleichaltriger aus einer ärmeren Familie.

So lautete die dpa-Interpretation, die tagelang den Medientenor bestimmte. Das ärgerte insbesondere Manfred Prenzel.

So ist das, seit es das Programme of International Students Assessment (Pisa) gibt. Die Schülerstudie sollte mehr Wissen über die Schulen zutage fördern. Dass dabei nun aber etwas sehr Unangenehmes, um nicht zu sagen Skandalöses ans Licht kommt, finden die Schulminister nicht schön: Die deutsche Schule ist kreuzungerecht. Daran gibt es nichts zu deuteln.

Bis zu einem Drittel, in Hauptschulen rund 50 Prozent Risikoschüler produziert die Schule. Sie rekrutiert entlang der sozialen Schichten. Die – vereinfacht gesagt – Reichen und Schönen kommen ins Gymnasium, Nachwuchs von Frisörinnen in die Hauptschule. Die Verantwortlichen wissen sehr genau, dass diese festgelegte Chancenzuteilung weltweit einmalig ist – und für eine Demokratie nicht tragbar. Aber sie sagen das nicht laut. Sie versuchen, es zu kaschieren. Manche helfen ihnen dabei. Manche nicht.

Karl-Heinz Reith von dpa zum Beispiel tut das nicht. Er ist viel zu sehr Journalist und viel zu lange im Geschäft. Er schreibt, wenn ein Skandal ein Skandal ist. Er hat beinahe alle Informationen über Pisa vorab in Händen – und gibt sie den Bürgern weiter.

Die Zeit beansprucht für sich eine andere Rolle. Am Tag, als die Pisa-Studie veröffentlicht wurde, hieß es dort: Es war eine Ente, eine Falschmeldung! „In die Welt gesetzt wurde diese Fehlinformation von der Deutschen Presse-Agentur.“ Der dpa-Redakteur „oder sein Informant“ hätten Statistiken falsch interpretiert.

Und dann folgt im Zeit-Text eine längliche Interpretation der neuen Pisa-Ergebnisse, die einerseits beeindruckend detailreich ist. Und sich andererseits wie der Sprechzettel von Pisa-Chef Prenzel liest. Das Pikante: Das Blatt hat am Dienstag Redaktionsschluss, das heißt, schon zu diesem Zeitpunkt muss sie kleinteilig informiert gewesen sein. Sie nutzte dieses Privileg freilich nicht, um den Skandal Skandal zu nennen, sondern um ihn kleinzureden („skandalös genug“). Das legt die Vermutung nahe, dass das Blatt gerne ins Prenzel-Horn stößt. Thomas Kerstan, der zuständige Redakteur, schützt seine Quellen begreiflicherweise. Und widerspricht der These, er habe eine Auftragsarbeit abgeliefert. Er sagt: „Wer ordentlich recherchiert, produziert keine Falschmeldungen.“

Aber wie ist es nun eigentlich? Hat die dpa falsch informiert? Ist die deutsche Schule ungerecht?

Die Informationen der dpa von Sonntag waren exakt die, welche die Kultusminister am Donnerstag verkündeten, das heißt: Ein Oberschichtkind hat – bei gleicher Leistung – eine vierfach höhere Chance aufs Gymnasium wie ein Unterschichtkind. Niemand behauptet, dass dies gerecht sei – nicht mal die Zeit oder Manfred Prenzel. Ob sich die Ungerechtigkeit der Schule noch erhöht hat, lässt sich allgemein sagen, im Detail aber schwer beweisen.

Schuld daran ist übrigens nicht die Agentur, sondern die Pisa-Forscher. Sie haben von Pisa 2000 zu Pisa 2003 den Maßstab gewechselt, mit dem das exakt messbar wäre. Ist das ein Zufall? Oder gehört das zur Strategie, um der ganzen Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen?