: Nicht alle wollten mitmarschieren
Heute vor 61 Jahren wurden in Köln der Edelweißpirat Barthel Schink und zwölf weitere Mitglieder der „Ehrenfelder Gruppe“ öffentlich hingerichtet
VON PASCAL BEUCKER
„Ich erzähl jetzt was, was ich eigentlich nie einem erzählen wollte, es wollte ja sowieso keiner hören.“ – Mit der Stimme des 76-jährigen Jean Jülich beginnt der heute in den Kinos anlaufende Film „Edelweißpiraten“ von Niko und Kiki von Glasow. Tatsächlich hatte Jülich lange geschwiegen über jene dunklen Jahre seiner Jugend, die er nur mit viel Glück hatte überleben können. Denn als der Kölner nach einer Odyssee durch diverse Gestapo-Gefängnisse „immer vor der Front her“ endlich im hessischen Reckenbach von der US-amerikanischen Armee Ende März 1945 befreit wurde, war ihm wie vielen Überlebenden des NS-Regimes nicht danach, über das Erlebte und Erlittene zu berichten. Schließlich galt es, den Alltag zu bewältigen – in einem Umfeld, dass ohnehin nur wenig Verständnis für jemanden hatte, der so anders gewesen war als die meisten anderen Deutschen: für einen, der nicht mitgemacht hat.
Jülich pachtete in der Nachkriegszeit zunächst ein Zeitungsbüdchen vor dem Deutzer Bahnhof. Als der Zeitungs- und Zeitschriftenhandel nicht mehr lief, etablierte Jülich mehrere gut gehende Kneipen. Und er wurde überzeugter Karnevalist, gründete die Tanzgruppe „Winzerinnen und Winzer vun d‘r Bottmüll“, präsidierte der Karnevalsgesellschaft „Alt-Severin“ und wurde mit gerade 34 Jahren in den Vorstand des Festkomitees gewählt. Das Dritte Reich jedoch war für ihn kein Thema mehr. „Man dachte an alles Mögliche, nur nicht an diese Zeit“, wird Jülich später sagen. Auch von den Edelweißpiraten war keine Rede. Weder als Karnevalist noch als Kneipier, sei er in all den Jahren darauf angesprochen worden.
Erst Ende der 70er Jahre änderte sich das – durch einen Bericht des ARD-Politmagazins Monitor im Mai 1978. Darin wurde skandalisiert, dass der von den Nazis ermordete Edelweißpirat Bartholomäus „Barthel“ Schink, ein guter Freund Jülichs, in den Gerichtsakten immer noch als Krimineller geführt wurde. Als Schink heute vor 61 Jahren zusammen mit zwölf weiteren Mitgliedern der „Ehrenfelder Gruppe“ auf Sonderbefehl des SS-Führers Heinrich Himmler in Köln-Ehrenfeld öffentlich hingerichtet wurde, war er gerade einmal 16 Jahre alt.
Es gab sie in Wuppertal und Duisburg, in Krefeld und in Dortmund, in Düsseldorf nannten sie sich „Fahrtenjungs“, in Essen „Essener Stenze“ und in Köln „Navajos“ oder eben „Edelweißpiraten“ – Jugendliche, die nicht im Gleichschritt der Hitler Jugend marschieren wollten. Sie umfassten mehrere tausend Mitglieder, bestanden über das ganze Reich verteilt, waren, jedoch im Rheinland und im Ruhrgebiet besonders zahlreich. Den Nazis galten diese subkulturellen Zusammenhänge als „verlottert“, „sittlich verwahrlost“ und „kriminell“.
Ab den 40er Jahren ging das Regime verstärkt und mit aller Härte gegen die jugendlichen „Rebellen“ vor. So wurden allein am 7. Dezember 1942 in Düsseldorf und Duisburg jeweils zehn Gruppen mit zusammen 543 Jugendlichen, in Essen und Wuppertal je vier Gruppen mit 124 beziehungsweise 72 Jugendlichen aufgelöst.
Diese „wilden Jugendgruppen“, die „durch betont lässige Kleidung und Haltung allenthalten auffielen und Anstoß erregten“, legten „gegen alles, was irgendwie mit der HJ zu tun hatte, eine feindliche Einstellung an den Tag, was auch in ihren Liedern, sowie in ihrem Verhalten gegenüber HJ-Angehörigen zum Ausdruck kam“, befand angewidert das Reichssicherheitshauptamt im März 1943 über die ursprünglich aus der Wandervogelbewegung heraus entstandene jugendliche Oppositionsbewegung, die heute allgemein unter dem Oberbegriff „Edelweißpiraten“ zusammengefasst wird.
Wie der Begriff „Edelweißpiraten“ entstanden ist, ist dabei bis heute nicht restlos geklärt. Einiges spricht dafür, dass er eine Schöpfung der Verfolgungsbehörden ist, die dann von manchen der verfolgten Jugendgruppen als eine Art „Ehrenname“ übernommen wurde.
In Köln entschlossen sich einige Edelweißpiraten 1943, in die Illegalität zu gehen und Kontakt zur politischen Opposition aufzunehmen. Es bildete sich die „Ehrenfelder Gruppe“, die aus geflohenen Häftlingen, Zwangsarbeitern, Russen, Juden, Deserteuren und eben jugendlichen Edelweißpiraten bestand. Bis zu ihrer Zerschlagung versteckte der Kreis um Hans Steinbrück, einen ehemaligen Häftling des KZ-Außenlagers Köln-Messe, und seiner Freundin Cilly Servé geflohene Zwangsarbeiter und Deserteure, stahl zu ihrer Versorgung Lebensmittelmarken aus Verteilungsstellen oder plünderte Versorgungszüge auf Güterbahnhöfen. Die „Ehrenfelder“ verbreiteten Flugblätter – und sie verübten erfolgreich Sabotageakte sowie Anschläge auf Gestapo- und NS-Funktionäre.
Im Herbst 1944 wurde die Gruppe ausgehoben. Die Nazis verhafteten 63 Personen, unter ihnen 19 Jugendliche – mit dabei auch der 15-jährige Jean Jülich. Am 10. November 1944 wurden dreizehn „Ehrenfelder“ ohne Gerichtsurteil öffentlich gehängt: Hans Steinbrück, Günther Schwarz, Gustav Bermel, Johann Müller, Franz Rheinberger, Adolf Schütz, Barthel Schink, Roland Lorent, Peter Hüppeler, Josef Moll, Wilhelm Kratz, Heinrich Kratina und Johann Krausen. Der schauerlichen Inszenierung wohnten 400 Schaulustige bei.
Der Film „Edelweißpiraten“ endet mit der Befreiung Kölns durch die US-Armee. Doch ihre Geschichte endete damit noch nicht. Waren die „Ehrenfelder“ Widerstandskämpfer gewesen oder nur gewöhnliche Kriminelle? Die Frage beschäftigte jahrzehntelang deutsche Behörden und Gerichte. So kämpften nach dem Krieg zunächst die Mutter, dann die Schwester von Barthel Schink vergeblich um Entschädigungszahlungen. Das zuständige Wiedergutmachungsdezernat des Kölner Regierungspräsidiums lehnte dies ab, über mehrere Instanzen hinweg bestätigten die Gerichte diese Entscheidung und stützten sich dabei auch maßgeblich auf belastende Gestapo-Unterlagen.
Noch Ende der 80er Jahre kam ein von der nordrhein-westfälischen Landesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Kreis um Schink zwar doch nicht unbedingt um Kriminelle, aber ebenso wenig um „auf hoher ethischer Gesinnung basierenden, aus politischem Verantwortungsbewusstsein gewachsenen Widerstand“ gehandelt habe. In der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem werden Schink wie auch Jülich sowie andere Edelweißpiraten hingegen bereits seit Mitte der 80er Jahre als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt – der höchsten Ehrung für Nichtjuden.
Seit Juni dieses Jahres hängt in der Galerie des Kölner Regierungspräsidiums eine Urkunde, die Schink und seine Freunde als Widerstandskämpfer auszeichnet. „Es liegt mir am Herzen, dass gerade diese proletarische Gruppe, die sich nie durch große Worte in Szene gesetzt hat, die Anerkennung erfährt, die ihr gebührt“, begründete der damalige Regierungspräsident Jürgen Roters seinerzeit gegenüber der taz seine Initiative zur Rehabilitierung. Gewidmet ist die Urkunde „auch allen Jugendlichen, die in Opposition und Widerstand zum NS-Regime“ standen.
Die Hüttenstraße, wo einst die Galgen standen, heißt bereits seit Anfang der 90er Jahre Bartholomäus-Schink-Straße. Hier befindet sich auch mittlerweile ein Mahnmal, das an die Ehrenfelder Edelweißpiraten erinnert. An diesem Ort wird heute um 17.30 Uhr eine Gedenkveranstaltung mit anschließender Kranzniederlegung stattfinden.
„Wir wollten normal leben, unsere Jugend genießen, was uns die HJ nicht erlaubte“, erklärt Jean Jülich das seinerzeitige Aufbegehren der Edelweißpiraten gegen die Nazi-Diktatur. „So entstand zunächst Protest, welcher aber dann zu praktischem Widerstand wurde.“
KULTUR SEITE 16