die taz vor 11 Jahren: mark edelmann, überlebender des warschauer-ghetto-aufstands, erinnert sich
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Über ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit der „Kristallnacht“. Am 9. November 1938 zeigte Hitler der Welt sein Gesicht des Hasses und der Menschenverachtung. Seinen Mitbürgern redete er ein, sie könnten sich alles erlauben, weil das Volk, dem sie angehörten, wertvoller sei als alle anderen Völker. 1933 wird jene Spur der Niedrigkeit gelegt, die einen geradezu irren Haß gegen die Menschen verrät. Von der Verbrennung von Büchern führte der Weg über die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen, über die Ermordung psychisch Kranker und Behinderter hin zur Wannseekonferenz und zu den Krematorien von Auschwitz.

Das alles ist das Ergebnis von Chauvinismus und Nationalismus, von einer Diktatur, die ohne Tod und Unterdrückung nicht existieren konnte. Im Zweiten Weltkrieg kulminierten die mörderischen Absichten des Hitlerismus – insgesamt 40 Millionen Menschen mußten ihr Leben lassen. Zum Glück hat die demokratische Welt den Krieg gewonnen und die Expansion der Diktatur verhindert. Aber haben wir die Freiheit für immer gewonnen? Leider waren wir seit dieser Zeit vielfach Zeugen von Völkermord, in Asien, Afrika und nun in Jugoslawien. Dort tobt noch immer ein unsinniger, nationalistischer Krieg, entfesselt von einer kommunistischen Diktatur, die an der Macht bleiben will.

Im demokratischen Europa von heute mehren sich trotz des Falls der Berliner Mauer nationalistische Exzesse. Immer häufiger werden Gesetze erlassen, die die Freiheit anderer Völker einschränken. Es entsteht ein Ghetto der Reichen. Diese Politik ist gefährlich für die Zukunft. Den freien Völkern ist es nicht erlaubt, die Lehren aus dem Regime Hitlers zu vergessen. Ihre Pflicht ist der unaufhörliche Kampf um gleiche Rechte für alle Menschen, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ihr Bekenntnis, ihre Überzeugung und ihre Rasse. taz, 10. 11.1994Der Autor war Kommandant des Warschauer-Ghetto-Aufstands von 1943