piwik no script img

Archiv-Artikel

„So leicht kann man sich die Welt nicht schönrechnen“

GEWERKSCHAFTEN Michael Sommer verlangt, gegen Bildungsarmut zu kämpfen, statt Übernachtungen in Luxushotels günstiger zu machen

Michael Sommer

■ 57, ist Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Er studierte Politikwissenschaften an der FU Berlin und arbeitete für die Postgewerkschaft. Sommer ist seit 1981 Mitglied der SPD. 2001 wurde er Vorsitzender der Gewerkschaft Ver.di, 2002 dann des DGB.

taz: Herr Sommer, die Bundesregierung veranstaltet morgen einen Gipfel, um mehr Geld für Bildung zu mobilisieren. Nun zirkuliert ein Papier, wonach Deutschland sein 10-Prozent-Ziel schon fast erreicht habe. Können wir uns also zurücklehnen?

Michael Sommer: Nein. Bund und Länder präsentieren pünktlich zum Bildungsgipfel eine in unseren Augen falsche Rechnung. Der Milliardenbedarf für Bildung wird systematisch kleingerechnet. Das sind Taschenspielertricks. Aber wir werden das nicht durchgehen lassen – so leicht kann man sich die Welt nicht schönrechnen.

Was ärgert Sie so? Es gab doch vor einigen Wochen bereits ein ähnliches Papier.

Damals waren es die Finanzminister der Länder, die plötzlich neue Posten ins Bildungsbudget buchen wollten. Sie schlugen die Pensionen für Lehrer und Professoren drauf, sie rechneten die Sanierung von Gebäuden ein, und schon war das 10-Prozent-Ziel erreicht. Damals aber schlugen alle Alarm, dass man so nicht rechnen dürfe – auch die Bundesbildungsministerin. Ich kann nur davor warnen, solche durchsichtigen Buchungstricks zur offiziellen Linie in der Bildungspolitik zu erheben.

Was heißt das?

Es geht leider nicht mehr zuerst um eine Verbesserung des Bildungssystems. Bildung ist ein Faustpfand geworden – es wird für ganz andere Ziele eingesetzt. Zum Beispiel dafür, eine falsche Steuerreform finanzieren zu können, die vor allem Klientelinteressen bedient. Anstatt das Schulessen billiger zu machen, finanzieren wir nun Übernachtungen im Adlon mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz.

Seien Sie doch froh, dass das Thema Bildung mit der Steuerpolitik in einem Atemzug genannt wird.

Ja, aber wie! Die Menschen haben ein sehr feines Gespür für diese Fragen. In Umfragen haben sie klargemacht, welchen Schwerpunkt sie setzen würden: Bildung! 35 Prozent fordern mehr Geld für Bildung, und nur 6 Prozent wollen Steuersenkungen.

Aber es wird doch objektiv viel Geld in Bildung gesteckt.

Wir haben auch objektiv gravierende Probleme. 1,5 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren haben keine abgeschlossene Ausbildung. Jedes Jahr verlassen mehr als 65.000 junge Menschen die Schule ohne einen Abschluss. Rund 400.000 Jugendliche landen in Warteschleifen, ohne Chance auf eine qualifizierende Ausbildung.

Nun ja, die Finanzminister rechnen die Bildungslage schön – und Sie rechnen sie schlecht.

„Deutschland ist auf dem Weg in eine neue Art der Klassengesellschaft.“ Glauben Sie, dass dieses Zitat von mir stammt? Falsch, es steht in einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Unter dem Titel „Eltern unter Druck“ beschreiben Wissenschaftler die Flucht der Oberschicht in ein abgeschottetes privates Bildungssystem. Das reicht vom Luxuskindergarten bis hin zur privaten Hochschule. Ich empfehle allen Beteiligten das Papier zur Lektüre.

Wir dachten, Sie und Frau Merkel seien Freunde?

Freunde finde ich wie jeder im Privaten. Ich finde es richtig, dass Frau Merkel vor drei Jahren Bildung zur Wohlstandsfrage des 21. Jahrhunderts erklärt hat. „Bildung für alle“ hieß ihr Anspruch – den teilen wir vorbehaltlos.

Was erwarten Sie von der Regierung?

Alle wissen doch, woran es hapert. Wir brauchen mehr Geld, um Bildungsarmut zu bekämpfen. Also weniger Schulabbrecher und weniger junge Menschen ohne Berufsabschluss. Die Zahl der Studienanfänger soll steigen. Bald wollen die doppelten Abiturjahrgänge an die Unis, und keiner weiß, woher die Studienplätze für die kommen sollen. Wir brauchen auch mehr und bessere Kindergärten. Man muss sich überlegen, wofür man Geld ausgibt. Und darf den Leuten nicht schöngerechnete Erfolgsbilanzen vorgaukeln.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER