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Archiv-Artikel

„Die Gewalt in Paris ist die Antwort auf die Demütigung“

Was hat Kreuzberg mit der Banlieue zu tun? Nicht viel. Denn der Rassismus und die Ausgrenzung der Migranten ist in Frankreich viel drastischer

taz: Man kann kaum eine Zeitung lesen, in der nicht gefragt wird: Wann brennt Kreuzberg? Ist das die richtige Frage?

Sanem Kleff: Nein. Ich glaube dahinter steckt eine Projektion. Nämlich der Wunsch, dass die muslimischen Jugendlichen eine Gefahr für Europa sind. Das will man bestätigt sehen. Das mag verkürzt klingen. Aber das schwingt da mit.

Ein Beispiel?

Schon der Begriff „die muslimischen Jugendlichen“. Dabei geht es in Frankreich doch nicht um Religion, sondern um einen sozialen Konflikt. In diesem Bild sind „die Muslime“ eine Bedrohung. Das ist gefährlich.

Lassen wir die Projektionen beiseite: Warum gibt es bei uns auch in Vierteln mit vielen jungen arbeitslosen Migranten weniger Gewalt als in Paris?

Weil das Leben hier noch immer viel besser ist als in den Banlieues. Das wird von dem Gerede über Parallelgesellschaften und die Ghettos in unseren Städten verdeckt. Verrottete Wohnsilos wie in der Banlieue, die völlig isoliert von den Städten sind, gibt es hier nicht. Den Jugendlichen dort fehlt die Möglichkeit, am urbanen Leben teilzunehmen. Für sie gibt es in den Städten keine Orte, nichts, was ihnen gehört. Außerdem gibt es in Frankreich seit Jahren einen rassistischen Diskurs, der den Migranten sagt: Verschwindet, ihr seid nichts wert. Die Gewalt richtet sich gegen diese Demütigung …

Und das ist bei uns anders?

Ja. Es gibt Rassismus, aber nicht so offen. Und nicht dort wo Migranten wohnen, wie in Marseille oder Toulouse. Wenn es z. B. in Köln eine große ausländerfeindliche Bewegung gäbe, dann würde sich auch hier viel ändern.

Gibt es noch mehr Unterschiede?

Es ist kein Zufall, dass in Frankreich Schulen und Kindergärten angezündet werden. Das ist kein bewusster politischer Akt. Aber es zeigt, wogegen sich die Wut richtet: die Institutionen, die für die Jugendlichen da sein sollen, aber es in ihrem Empfinden nicht sind. Bei aller Kritik am deutschen Bildungssystem: Die Chancen für französische Migrantenkinder sind viel, viel schlechter. Es gibt in den Banlieues ein kaum vorstellbares Ausmaß an Verwahrlosung.

Gibt es bei uns Tendenzen, die zu französischen Zuständen führen können?

Ja. In der alten Bundesrepublik gab es für die Unterschicht ein soziales Netz – und die Möglichkeit aufzusteigen. Das ist gefährdet, wenn die Ideologie um sich greift, dass die Schere zwischen oben und unten weiter werden muss.

Warum?

Weil klar ist, zu wessen Lasten das geht. Zum Beispiel Bildung: Es gibt immer weniger Unterschichtskinder, die studieren. Männliche Jugendliche mit muslimischem Hintergrund haben faktisch null Chancen, über Bildung aufzusteigen. Das ist dramatisch – auch für ihr Selbstbild. Sie wissen, dass sie keine soziale Rolle spielen können, die es ihnen ermöglicht, ihre Vorstellungen zu realisieren, Mann, also Vater und Ehemann, zu sein. Es hilft nichts zu sagen: Ihr bekommt doch Sozialhilfe. Das geht über das Materielle hinaus. Das bildet den Kern der Demütigung.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE