: Die ultimative Provokation
Mit seinem Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ hat Wolfgang Kraushaar jüngst eine Debatte um Antisemitismus von Links ausgelöst. Zum Auftakt einer Serie zum Thema verortet er die Lesarten des Anschlags vom 9. November 1969
VON WOLFGANG KRAUSHAAR
„Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“, das einen vor 36 Jahren in Westberlin verübten, allerdings misslungenen Bombenanschlag aufgeklärt hat, besitzt einen Nachrichten- und einen Diskussionswert. Sein Informationsgehalt ist bislang von niemandem ernsthaft in Frage gestellt worden. Albert Fichter, der Bombenleger, hat ein Geständnis abgelegt, seine Tat bedauert und sich bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin entschuldigt. Die Staatsanwaltschaft hat die Frage, ob damit das Ermittlungsverfahren neu aufgenommen werden müsse, negativ beschieden. Alle Delikte seien verjährt.
Die in dem Band gezogenen Schlussfolgerungen sind von der überwiegenden Zahl der Rezensenten geteilt worden. Einzelne Kommentatoren haben ihnen zum Teil heftig widersprochen und mitunter konkurrierende Hypothesen ins Spiel gebracht. Die zentrale Frage lautet: Worin liegt das Motiv für den Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus? Dabei haben sich im Kern vier Erklärungsvarianten herausgestellt – zwei Varianten, die sich als instrumentelle und zwei, die sich als genuine charakterisieren lassen.
1. Einige Kritiker widersprechen der Annahme, dass es um ein Attentat gegangen sei, dem eine antisemitische Haltung zugrunde gelegen habe, und behaupten stattdessen, dass möglicherweise der Staat, genauer: einer seiner Geheimdienste, für den Anschlag verantwortlich sei. Der Verfassungsschutz-Agent Peter Urbach habe nicht nur die Bombe geliefert, sondern wohl auch das Ziel des Anschlags genannt. Das Attentat, so wird nahe gelegt, wenn auch nicht ausgesprochen, wäre demnach im Auftrag des Berliner Landesamts für Verfassungsschutz verübt worden. Ziel sei es gewesen, damit die radikale Linke zu diskreditieren.
2. Eine andere Instrumentalisierungsthese ist im Buch in ihrem Für und Wider erörtert, jedoch von keinem der bisherigen Kommentatoren aufgegriffen worden. Einige Indizien nähren den Verdacht, die al-Fatah könnte Auftraggeber für den Anschlag gewesen sein. Insbesondere, weil die Kerngruppe der „Tupamaros West-Berlin“, zu der auch der Bombenleger zählte, in den Wochen zuvor in Jordanien militärisch ausgebildet worden war. In diesem Falle wäre die Gruppe um Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch in erster Linie Erfüllungsgehilfe bei einem palästinensischen Terrorakt gewesen.
3. Die erste genuine Erklärungsvariante lautet, dass der Anschlag auf einen in der Gruppe der Attentäter verbreiteten elementaren Judenhass zurückzuführen sei. Die Bombe wäre demzufolge weder im Auftrag von irgendjemandem noch zum bloßen Schein gelegt worden. Sie sei direkt gegen die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sowie gegen die Besucher der Gedenkveranstaltung gerichtet gewesen. Mit ihr wäre also nicht nur das Ziel verfolgt worden, Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern auch Personen zu verletzen, vielleicht sogar zu töten.
4. Die zweite genuine Erklärungsvariante lautet, dass der Anschlag nicht aus antisemitischen Motiven verübt worden ist, sondern lediglich um der Provokation willen. Kaum eine größere Provokation wäre im Nachkriegsdeutschland denkbar gewesen als ein Bombenattentat auf die Überlebenden des Holocaust, noch dazu bei einer Gedenkfeier für die Opfer der Pogromnacht von 1938. Die Tatsache, dass die Bombe nicht explodiert ist, müsse ganz in dieser Logik begriffen werden. Schließlich sei es nicht das Ziel gewesen, Personen ernsthaft zu schaden. Damit sei weniger die Absicht verfolgt worden, Schrecken zu verbreiten, als in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen. Der eigentliche Adressat wäre nicht die Jüdische Gemeinde, sondern die radikale Linke gewesen. Die Attentäter hätten sie damit zu einem Kurswechsel bewegen wollen – weg von der lange Zeit geübten Solidarität mit Israel und hin zur Unterstützung der Palästinenser.
Die Konsequenzen, zu denen diese vier Erklärungsvarianten führen, sind höchst unterschiedlich. Die beiden Instrumentalisierungshypothesen hätten eine Teil-Exkulpierung der Täter zur Folge, am stärksten sicherlich bei der ersten Variante. Verantwortlich wäre in letzter Instanz der bundesdeutsche Staat. Eine Gruppe aus dem Spektrum der radikalen Westberliner Linken sei nichts anderes als der nützliche Idiot gewesen. Was die beiden genuinen Varianten anbetrifft, so wäre nur im Falle der Zurückführung des Anschlags auf ein antisemitisches Motiv jeglicher Spielraum für eine tendenzielle Selbst-Exkulpation aufgezehrt. Im Falle des Provokationismus würde Kunzelmann & Co. wiederum ein Hintertürchen geöffnet, um sich aus der Verantwortung für die Untat stehlen zu können.
Alle vier Varianten sind im Buch als Erklärungsmöglichkeiten aufgeworfen und in ihrem Für und Wider durchdekliniert worden. Die ersten beiden konnten jedoch nicht abschließend durchleuchtet bzw. geklärt werden. Weder im Falle des Verfassungsschutzes noch in dem der al-Fatah liegen Informationen vor, die die eine oder die andere Instrumentalisierungsthese belegen könnten. Auf dieser Grundlage muss etwa die von Gerd Koenen in Richtung auf den Bombenlieferer Urbach und dessen Dienstherrn Neubauer angestellte Insinuation, dieser sei der eigentliche Auftraggeber gewesen, als verwegen erscheinen. Es gibt bislang keinerlei Hinweis, dass der VS-Agent Einfluss auf das Anschlagsziel gehabt haben könnte. Zwischen dessen Bombenlieferung und der Bombenlegung lagen überdies etliche Monate. Damit wird die Mitverantwortung des Berliner Senats nicht geleugnet, jedoch deren verschwörungstheoretische Zuspitzung, dass hier die eigentliche Wurzel für das Attentat zu finden sei, ausgeklammert. Solange keine weitergehenden Erkenntnisse vorliegen, bedarf es einer solchen Differenzierung.
Auch der Ansatz, den Anschlag als ultimative Provokation und damit als Fortsetzung der europäischen Avantgarde zu betrachten, überzeugt nicht. Der Kölner Historiker Aribert Reimann, der seit Jahren an einer Kontextbiografie Kunzelmanns arbeitet, lässt nichts unversucht, um einen Terroranschlag nachträglich in die Avantgarde einzubetten. Im Grunde versucht er damit nichts anderes, als einen bestimmten akademischen Ansatz, seinen eigenen, zu retten. Die Einbettung des Anschlags in die Kontinuitätslinie einer postsurrealistischen Avantgarde wäre jedoch zynisch gegenüber den Opfern. Damit würde ein Terrorakt kulturalisiert und auf obszöne Weise zum Element einer Ästhetisierung des Terrors gemacht.
Was allein übrig bleibt, ist die Frage, ob der Antisemitismus als die ausschlaggebende Wurzel für den Anschlag angesehen werden muss und inwieweit diese judenfeindliche Dimension für die Zerfallsphase der 68er-Bewegung als exemplarisch gelten kann.
Das Buch erhebt keinen monokausalen Erklärungsanspruch. Mit ihm ist auch nicht die Absicht verfolgt worden, die zuletzt immer häufiger aufgeworfene Frage nach dem Antisemitismus in der bundesdeutschen Linken systematisch untersuchen zu wollen. In der Monografie geht es um die Klärung eines einzelnen, wenngleich zentralen und offenbar folgenreichen, weil kontinuitätsstiftenden Falles.
Der Anschlag vom 9. November 1969 stellt ganz gewiss einen historischen Schnittpunkt dar, in dem sich eine ganze Reihe von Linien gekreuzt haben: Subkultur und Guerilla, Öffentlichkeit und Klandestinität, Szene und Untergrund, Drogenkonsum und Hedonismus, Sexualität und Abenteuerlust, Gewalt und Terror, Antiimperialismus und Klassenkampf, Vietnamkrieg und Nahostkonflikt, Antizionismus und Antisemitismus. Die Frage, wie antisemitisch die 68er-Linke seinerzeit gewesen ist, darf also keineswegs als die einzige angesehen werden, die der Band aufwirft. Die Art und Weise, wie dieses Thema aufgegriffen worden ist, erscheint in mancher Hinsicht als bedenklich. Einige Reaktionen schwanken zwischen zwei Vorwürfen: Zum einen wird unterstellt, hier sei die Absicht verfolgt worden, die 68er-Bewegung pauschal mit dem Antisemitismus zu identifizieren und damit zu diskreditieren, und zum anderen, die vorgelegte Interpretation sei zu zurückhaltend und würde das Phänomen auf eine einzelne Figur wie Dieter Kunzelmann unzulässigerweise einschränken.
Beides sind extreme Sichtweisen, die sich nicht rechtfertigen lassen. Es kommt stattdessen darauf an, die Zusammenhänge differenziert zu betrachten und die einzelnen Argumentationen empirisch abzusichern. Festzuhalten ist: Bei dem missglückten Anschlag handelt es sich objektiv um ein antisemitisches Attentat. Vom Adressaten, vom Ort, vom Zeitpunkt und vom Bekenntnis her kann daran kein Zweifel existieren. Auch die Frage, ob es ein subjektiv beabsichtigter antisemitischer Anschlag war, muss bejaht werden. Dafür ist nicht nur die Sprache des Bekennerflugblattes zu eindeutig, sondern auch der in diesem Zusammenhang relevante, von Kunzelmann in einem Berliner Versteck verfasste „Brief aus Amman“.
Darüber hinaus gibt es einige Aussagen, die bezeugen, dass sich Kunzelmann 1968/69 des Öfteren explizit antisemitisch geäußert hat. Das Gleiche gilt offenbar auch für Georg von Rauch. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass zumindest die beiden wichtigsten Gründungsmitglieder der Tupamaros West-Berlin eine antisemitische Einstellung aufgewiesen haben. Wie weit diese Einstellungen jedoch auf die Gruppe der Tupamaros West-Berlin insgesamt, die radikale linke Szene oder die als „Berliner Blues“ bezeichnete Subkultur, geschweige denn auf die Neue Linke, die 68er-Bewegung oder die Außerparlamentarische Opposition (APO) als Ganzes übertragen werden können, erscheint zweifelhaft und muss von Fall zu Fall behandelt werden. Argumentationen wie etwa die von Götz Aly, der in einer Besprechung gemeint hat, nun die gesamte 68er-Linke zur Verantwortung ziehen und sie in eine unmittelbare Parallele zur Generation der NS-Eltern stellen zu müssen, sind kurzschlüssig und entbehren der empirischen Belege.
Andererseits kann kein Zweifel daran existieren, dass mit Dieter Kunzelmann, der Schlüsselfigur des Anschlagsversuches, nicht irgendwer im Rampenlicht steht. Schließlich verkörpert er wie kein anderer den antiautoritären Grundimpuls der 68er-Bewegung – von ihrer Geschichte, ihrem avantgardistischen Selbstbewusstsein, ihrer provokativen Zuspitzung her. Er war als Begründer der „Subversiven Aktion“, der Kommune I und der Tupamaros West-Berlin, so Ulrich Enzensberger, das „Alpha-Männchen“. Kunzelmann hat ein ums andere Mal neue Türen aufgestoßen: die zur provokativen Praxis, die zur Entwicklung neuer Lebensformen jenseits der bürgerlichen Familie und die in den Untergrund zur Formierung des bewaffneten Kampfes. Die Tatsache, dass er nicht nur ein Gegner des Zionismus und Feind Israels, sondern auch ein überzeugter Antisemit gewesen ist, kommt für all jene, die der antiautoritären Bewegung den entscheidenden Stellenwert für die Wirkungsgeschichte von 1968 einräumen oder sich gar mit ihr identifizieren, einer Katastrophe gleich.
Doch schon beim nächsten Schritt, der Frage der Übertragbarkeit auf die Gruppe der Tupamaros West-Berlin insgesamt, sind Zweifel angebracht. Diese Gruppe ist ohnehin keine geschlossene Formation gewesen. Ideologische Überzeugungen sind nicht in der gleichen Weise unter ihren Akteuren gegeben gewesen. Das lässt sich allein schon an dem Umstand erkennen, dass mit von Rauch ein zentrales Mitglied für die ideologische Schulung in Sachen Nahostkonflikt und damit für die weltanschauliche Ausrichtung zuständig war. Für einen nicht unerheblichen Teil der Gruppe sind ohnehin Fragen sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung relevanter gewesen als weltanschauliche oder ideologische Überzeugungen.
Daraus erklärt sich jedenfalls ein Teil der Binnendynamik, die nicht unerheblich zum Scheitern der Gruppe beigetragen hat. Die judenfeindliche Ausrichtung ihrer ersten Aktion ebenso wie die weiterer Folgetaten besaß für einige unter ihnen keine persönliche Fundierung, sondern war eher Mittel zum Zweck. Man versprach sich durch die Verübung einer antisemitischen Tat – was die Sache nicht besser macht – wohl in erster Linie ein höheres Maß an Anerkennung durch die eigenen Führungsfiguren. Andererseits war es für die führenden Figuren der Gruppe auch probat, einige als unsicher eingeschätzte Kantonisten durch die Begehung illegaler und moralisch als skandalös angesehener Taten zu binden.
Wie dünn dieses Gewebe gewesen sein muss, lässt sich an mehreren Punkten erkennen. Bei Albert Fichter, dem Bombenleger, handelt es sich zugleich um den ersten Aussteiger aus einer terroristischen Gruppierung. Obwohl er offenbar davon überzeugt war, dass es angesichts der Unterdrückung der Palästinenser rechtens sei, einen Anschlag auf eine „zionistische Versammlung“ – als die ihm das Treffen im Jüdischen Gemeindehaus in völliger Verkennung seines historischen Stellenwerts galt – zu verüben, war er nach eigener Darstellung nicht bereit, weitere antijüdische Anschläge zu verüben.
Ein anderes Mitglied wiederum bekam Skrupel bei der Vorbereitung eines Anschlags auf einen jüdischen Kindergarten und trug durch seine Weigerung dazu bei, dass dieser abgeblasen wurde. Aus all diesen hier aufgeführten Gründen wäre es für meine Begriffe fragwürdig, den Fall vom 9. November 1969 als Pars pro Toto für linken Antisemitismus in der 68er-Bewegung zu nehmen. Andererseits wäre es aber auch fahrlässig, den Stellenwert dieses Falles abzuleugnen und seine antisemitische Symptomatik auf die bloße Erscheinungsform eines gescheiterten Anschlags reduzieren zu wollen. Wenn es sinnvoll ist, den Fall der ins Jüdische Gemeindehaus gelegten Bombe weiter zu diskutieren, dann innerhalb dieser Grenzmarkierungen.
WOLFGANG KRAUSHAAR, 57, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung und ist Autor des Buches „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“, Hamburger Edition, 240 Seiten, 20 Euro. Sein Beitrag ist Auftakt einer taz.mag-Serie zum Thema „Die deutsche Linke und der Antisemitismus“