: Das System ist noch perfider
betr.: „Bornierte Mittelschichten“, Kommentar von Ulrike Winkelmann, taz vom 4. 11. 05
Es lebe die Systemtreue zum alten Vokabular des Klassenkampfes. Die deutschen Mittelschichten – das Arbeiter- und Migrantenmilieu: bitte bloß keine subtilere Differenzierung, das würde den morgendlichen Durchschnittsleser der taz sicher überfordern. Wenn jetzt auch noch eine Benachteiligung der Mädchen festgestellt worden wäre, dann wäre das Weltbild wahrhaftig im Lot!
Dass am deutschen Schulsystem einiges zu verbessern ist, liegt klar auf der Hand. Der Schrei nach der staatlichen Verantwortung sollte aber nicht vergessen lassen, dass am Schulerfolg der Kinder zum Glück nicht nur die Schule, sondern auch das eigene Engagement sowohl von Eltern und Kindern hängt. Insbesondere in den Bundesländern, in denen keine verbindlichen Grundschulempfehlungen nach der 4. Klasse erteilt werden, ist der weitere Werdegang a priori offen. Zu klären bleibt, ob aufgeschreckt durch die bisherigen Pisaergebnisse die Mittelschichten nun einfach noch gezielter als bisher die Ergebnisse ihrer Kinder unterstützen, während die Kinder der Arbeiterschichten quasi das Rohergebnis der Unterrichtsvermittlung widerspiegeln (weil sich zu Hause eh keiner dafür interessiert?). Dass die Benachteiligung Letzterer von den Mamis und Papis der angeblich Privilegierten gewollt ist, entbehrt jeder Grundlage und steht in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass eben jene Privilegierten später durch ihre Sozialabgaben die anderen unterstützen werden. SONJA SCHLÄGEL, Konstanz
Ein wirklich treffender Kommentar. Das System ist sogar noch perfider. Die privilegierten Schichten denken nicht daran, die Bildungschancen mit den ungeliebten Arbeiter- oder Migrantenmilieus zu teilen. Sie lassen sich ihre Parallelgesellschaften aber von „denen“ gern über die Steuer finanzieren, in Form von evangelischen oder katholischen Religionsschulen, Waldorfschulen oder was sonst noch gern mit dem Begriff „freie Träger“ verschleiert wird. Die lassen sich ihre Personalkosten fast vollständig vom Staat bezahlen und können dennoch skrupellos über Schulgeld oder christlich-esoterische Auswahlkriterien selektieren, wer auf die Schule darf und wer unerwünscht ist. JOHN RÖHE, Berlin
Wer warten will, bis die bundesdeutsche Planwirtschaft im Schulsystem sich von innen reformiert hat, kann lange warten. Die Niederländer und die Skandinavier haben es anders gemacht: Sie haben in ihren Ländern dafür gesorgt, dass die Schulen in freier, also nichtstaatlicher Trägerschaft gleichberechtigt behandelt und bezuschusst werden. Dadurch konnten diese Länder viel schneller zu einer lebendigen und durchlässigen Schullandschaft finden. (75 Prozent aller Schulen in den Niederlanden, etwa 30 Prozent in Skandinavien haben freie Träger).
In Deutschland wird die freie Initiative per Gesetz und gegen den Willen der meisten freien Schulen in eine private Nische abgedrängt. Durch diese Diskriminierung der Initiative von Eltern und LehrerInnen, die etwas verändern wollen, werden Innovationen und die freie Zugänglichkeit verhindert, bevor sie überhaupt beginnen konnten.
Wenn wir Durchlässigkeit und neue Ideen wollen, dann müssen wir den freien Schulen gleiche Chancen einräumen. Ganz nebenbei würden dann auch die Steuergelder sehr viel effizienter, weil weniger verwaltet eingesetzt werden können.
HENNING KULLAK-UBLICK, Handewitt
Bei aller Zustimmung zu Ihrer Beschreibung der Bildungsmisere hierzulande, muss ich deutlich protestieren gegen den sehr allgemeinen Vorwurf alle Mittelschichtler seien borniert und egoistisch.
Das Problem ist viel komplexer und komplizierter, vor allem aber seit ungefähr einer Generation festgefressen bei allen Behörden, von KMK bis zu manchen Oberschulräten. Diese Experten selbst werden zur Verbesserung weder etwas beitragen können noch manche wollen. Man sollte den Lehrern und Eltern Kompetenzen übertragen. Was sich in den Ministerien und Behörden abspielt, ist selbst für deutsche Bürokratiestandards außergewöhnlich und kann nur noch „rückstandslos entsorgt“ werden.
Ich habe vier Kinder, drei davon sind viermal umgezogen in verschiedene Bundesländer und somit Lehrpläne. Wie gesagt: Abschaffen und komplett neu machen nach finnischem oder DDR-, auf jeden Fall nach nicht bundesdeutschem Vorbild. Der bornierte Mittelstand ist das allergeringste Problem.
WOLFGANG SCHWARZ, Winsen
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