Estlands Verluste durch russische Sanktionen: Aljoschas teurer Umzug
Ein Jahr nach der umstrittenen Entfernung eines sowjetischen Ehrenmals beziffert Tallinn den Verlust durch russische Handelssanktionen auf fast eine halbe Milliarde Euro.
Aljoschas Umzug wurde teuer. Die Entfernung des zwei Meter großen "Bronzesoldaten" von seinem angestammten Platz in Estlands Hauptstadt hatte vor einem Jahr nicht nur zu tagelangen Unruhen mit einem Toten und vielen Verletzten geführt. Der Entschluss, dieses sowjetische Ehrenmahl zu verlegen, zeigte auch Langzeitwirkungen. Deren Kosten beziffert die Regierung in Tallinn nun auf rund 450 Millionen Euro.
Russland verhängte zwar nie offizielle Handelssanktionen gegenüber Estland und rief nie zu einem Boykott estnischer Waren auf. Aber die von Moskau als "Grabschändung" scharf kritisierte Umzugsaktion hatte dennoch spürbare wirtschaftliche Konsequenzen. Am deutlichsten wurden diese im Bahn- und Schiffstransitverkehr für russische Waren. Viele Transporte wurden seit Mai 2007 auf nicht-tallinische Häfen umgeleitet. Der Hafen von Tallinn verlor so insgesamt 13 Prozent seines Verkehrsaufkommens. Es wurden 16 Prozent weniger russisches Öl verschifft und kaum noch sibirische Kohle. In Litauen konnte man sich dagegen die Hände reiben: Der dortige Hafen von Klaipeda verdoppelte seinen Transit von und nach Russland im vergangenen Jahr.
Auch Estlands Tourismusindustrie verbuchte ein Minus von 18 Prozent bei russischen TouristInnen. Und Produkte wie die des Molkereikonzern "Valio Eesti" verschwanden zunächst ganz aus russischen Supermarktregalen. Die Zahl von 450 Millionen Euro, die Tallinn errechnet, ist vielleicht überzogen. Denn sie berücksichtigt nicht, dass Russland für seinen Außenhandel tendenziell immer stärker die eigenen, nun besser ausgebauten Häfen nutzen kann und der russische Tourismus nach Estland insgesamt rückläufig ist. Somit könnte es der Regierung in Tallinn politisch auch ins Konzept passen, einen Teil des gegenwärtigen Konjunkturabschwungs auf die Moskauer Ehrenmal-Reaktionen zu schieben.
Doch dass Estland teuer zahlen musste, bestätigt auch Nikolai Petrow vom "Carnegie Endowment for International Peace" in Moskau gegenüber der International Herald Tribune: "Bei einem Konflikt zwischen zwei Nachbarländern mit so extrem unterschiedlichem wirtschaftlichem Potenzial wird immer der Kleinere den Kürzeren ziehen."
Auf der Plusseite kann Estland immerhin verbuchen, dass die Nato ihr neues Verteidigungszentrum gegen Hackerattacken nun in Tallinn aufbaut. Auch politisch könne man letztendlich eine positive Bilanz ziehen, meint Andres Kasekamp, Direktor von Estlands außenpolitischem Institut in Tallinn: Die gemeinsame Front mit Estland, die alle EU-Staaten gegenüber Russland eingenommen hätten, sei durchaus als Meilenstein anzusehen.
Die aktuelle Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Tallinn und Moskau gehe jedenfalls in die richtige Richtung, betonte Estlands Außenminister Urmas Paet in der vergangenen Woche. Von "freundschaftlich" könne man zwar nicht sprechen, aber es gebe "deutliche Verbesserungen" und man arbeite an verschiedenen gemeinsamen Abkommen. Als hauptverantwortlich für die fortdauernden Differenzen bezeichnete Paet die unterschiedliche Beurteilung der Situation für die russische Bevölkerungsminderheit in Estland.
Mit einiger Spannung wird in Tallinn nun diesem Wochenende entgegengesehen, dem Jahrestag der "Bronzenen Nächte". Offenbar um offizielle Protestdemonstrationen zu erschweren, wurden ausgerechnet für den 26. und 27. April an nahezu allen zentralen Plätzen Tallinns ganztägige Veranstaltungen zu Fragen von Abfallbeseitigung und Gesundheitsinformation angemeldet und von der Polizei auch genehmigt. Und genau mit dem Hinweis auf diese Veranstaltungen wurde der Versuch der Anmeldung einiger politischer Kundgebungen blockiert.
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