Wachsende Klinsmänner

Eine müde französische Fußballnationalmannschaft kommt in Paris über ein 0:0 gegen Deutschland nicht hinaus. Im Lager des WM-Gastgebers wird dies als „sehr, sehr gutes“ Ergebnis gewertet

AUS PARIS MARKUS VÖLKER

Auch Jürgen Klinsmann durfte kurz vor Mitternacht das Podest besteigen. Dort oben hatte er eine prima Sicht auf Horden von Journalisten, die seiner Worte harrten. Im Stade de France ist es üblich, Trainer, Honoratioren und sonstige Wichtigmänner auf eine schicke Palette zu stellen, anstatt sie an die sonst übliche Podiumstheke zu bitten. Mit bestem Bellevue fand Klinsmann zu Bestform und moderierte seine Substantive schwungvoll und behände mit „sehr, sehr viel“ und „sehr, sehr gut“ an. Das alles kennt man schon seit über einem Jahr, welches er als Bundestrainer der deutschen Fußballelite sowie auf diversen Interkontinentalflügen verbracht hat.

In Klinsmanns Sprachbaukasten liegen ja allerhand abgegriffene Teile, man mag sie eigentlich nicht mehr aufgetürmt sehen. Doch das Schicksal wollte es, dass Klinsmann seine Sehrsehrs in Paris nach dem Länderspiel gegen die französische Nationalmannschaft wieder einmal hervorkramte, und zwar so, als hätte er sie gerade erst gezimmert und mit glänzendem Lack überzogen. Vielleicht entstand dieser Eindruck auch, weil er diesmal die Realität abzubilden versuchte und kein bloßes Wunschgebilde formte. Die Sehrsehrs konnten so stehen bleiben. Seine Mannschaft hatte mit dem 0:0 ein taktisch cleveres Spiel gezeigt. Man hätte ja durchaus damit rechnen können, dass Klinsmann nach diesem Match einräumen muss, seine Elf sei sehr, sehr unterlegen gewesen und habe sehr, sehr viel falsch gemacht gegen dieses „Weltklasseteam“ mit den „Weltklassestürmern“ und den ganzen anderen „Weltstars“. Aber davon konnte am Samstagabend keine Rede sein im Stadion von Saint Denis, wo gleich um die Ecke in einer üppigen Basilika Pippin der Kurze, Karl der Kahle sowie noch ein Dutzend Könige ruhen.

Die DFB-Auswahl, die den Gegner erst zum Riesen redete und dann auf Normalmaß stutzte, geht nach gelungener Transformation in eine schöpferische Pause. Diese wird über drei Monate dauern – bis zum 1. März 2006. Dann geht es gegen Italien. Es war also nicht unwichtig für die WM-Fahrer, mit einem guten Gefühl zu überwintern, nebenbei die Kritiker zu besänftigen und die Stimmung im Lande auf Standby zu schalten. Nicht auszudenken, wenn Klinsmanns selbst ernannte Titelaspiranten schmachvoll vom Platz geschlichen wären, mit hängenden Häuptern und einer 0:3-Niederlage. Die Wochenzeitung Freitag hatte angesichts dieser drohenden Gefahr schon davor düster orakelt: „Der 12. November wird für Klinsmann gewissermaßen das, was für Gerhard Schröder die NRW-Landtagswahl war. Das Ergebnis wird für ein knappes halbes Jahr die sportliche Stimmung im Vorfeld der Fußball-WM bestimmen.“ Wie mag sie nun sein, die Stimmung, nach dieser torlosen Partie? Hoffnungsvoll? Indifferent? Teileuphorisch?

„Es war enorm wichtig, dass es mit einem Erfolgserlebnis nach Hause geht“, konstatierte Cotrainer Joachim Löw, der nicht aufs Podest durfte, sondern ebenerdig mit den Berichterstattern plaudern musste. Thierry Henry (Podest) lobte den Gegner derweil über den grünen Klee: „Es betraf nicht nur die Innenverteidigung, die ganze deutsche Mannschaft war heute gut.“ Dass die Null stehen geblieben war gegen Stürmer des FC Liverpool, FC Arsenal, von Juventus Turin und Fenerbahce Istanbul, das verbuchte Klinsmann als „großen Erfolg“. Weiter: „Für unsere Innenverteidigung ist es viel wert, wenn sie gegen solche Spieler antreten. Da wachsen sie dran. Heute Abend haben sie wieder sehr, sehr viel gelernt.“ Es geht somit voran, „Schritt für Schritt“; auch diese Phrase wurde schon dutzendfach gebraucht in der Klinsmann-Ära. Sie wird bis zur WM weiter Konjunktur haben.

Per Mertesacker (ebenerdig), Muster-Azubi in der Viererkette, bestätigte den Fortschritt durch Herausforderung. „Es war wichtig, dass wir es gegen Stürmer können, die in der ganzen Welt gefürchtet sind.“ Er konnte. Und auch sein Mitstreiter an zentraler Stelle, Robert Huth, konnte. Einigermaßen. Die Spielweise der Abwehr sei mit viel Risiko verbunden gewesen, sagte Mertesacker, „aber es ist ja gut gegangen“. Zu beobachten war, dass es die Viererkette hin zur Mittellinie zog, sodass sich zwischen Angriff und Abwehr ein bespielbarer Kordon von nur 30 bis 40 Metern öffnete. Darin tobten die Zweikämpfe. „Kompakt gestanden“, beschrieb Löw diese Formation, die erstmals über 90 Minuten leidlich funktionierte. Die DFB-Elf habe stets aggressiv attackiert, lobte Löw: „Wir sind früh draufgegangen und vorne haben wir Nadelstiche gesetzt.“

Weil die eine Mannschaft der anderen nicht viel gönnte und auch die Chancen gleich verteilt waren, konnte Frankreichs Trainer Raymond Domenech (Podest) ruhigen Gewissens behaupten, er habe ein gutes Spiel „zweier gleichstarker Mannschaften gesehen“. Seine Elf habe „ein paar schwierige Momente“ überstehen müssen, aber sie sei ja auch müde. Müde von der WM-Qualifikation und einem Freundschaftsspiel auf Martinique vor wenigen Tagen.

Für ein Unentschieden gegen die Deutschen reicht das allemal. Die sind nun zwar mit gestärktem Selbstbewusstsein nach Hause gefahren, ein Blick ins statistische Handbuch könnte diesen Fortschritt aber wieder zunichte machen. Seit 15 (!) Jahren hat das DFB-Team kein Tor mehr gegen die équipe tricolore geschossen. Und seit fünf Jahren hat es gegen keinen Großen mehr gewonnen, nicht gegen Frankreich, Holland oder Brasilien. Jürgen Klinsmann kümmern solche Zahlenspiele nicht. Behauptet er. „Wir hätten das Spiel entscheiden können“, sagte Klinsmann, „vielleicht haben wir es uns für die WM aufgehoben.“ Das war eine sehr, sehr optimistische Prognose.

Frankreich: Coupet - Réveillere, Thuram, Boumsong, Gallas - Sagnol, Dhorasoo (75. Diarra), Makelele, Malouda (69. Rothen) - Henry (46. Anelka), Trezeguet (69. Cissé)Deutschland: Lehmann - Friedrich, Mertesacker, Huth, Jansen - Deisler (46. Schweinsteiger), Frings, Ballack, Schneider (76. Borowski) - Klose, Podolski (83. Kuranyi)