„Ich heiße nicht Detlev Ostdeutschland“

Vor fünfzehn Jahren wurde die Ost-West-Wochenzeitung „Freitag“ gegründet. Vier Redakteure, zwei aus dem Westen, zwei aus dem Osten, erinnern sich – an dreckige Fingernägel, verspätete Rezensionen, sinnlose Diskussionen und das Glück, nicht den Osten und den Westen repräsentieren zu müssen

AUFGEZEICHNET VONSTEFAN REINECKE

Stefan Reinecke (Filmredakteur, West): Wir reden über den Freitag, der am 9. November 1990 erstmals erschien. Wir sind also fünf Tage zu spät. Journalistisch katastrophal. Das passt aber prima zum Freitag, denn der war auch oft inaktuell. Das kam von euch, den Ostlern.

Jörg Magenau (Literaturredakteur, West): Euch war es unwichtig, ob die Rezension einer Kunstausstellung, die ein halbes Jahr lief, erst drei Tage vor deren Ende erscheint.

Detlev Lücke (Bildende Kunst, Ost): Das war aber nicht immer so. Worauf wollt ihr hinaus?

Reinecke: Auf eine These. Aktualität hat im Sonntag keine Rolle gespielt. Es ging nicht darum, wann etwas in der Zeitung steht, sondern wie nahe ein Text an der Wirklichkeit sein konnte. Hatte ihr eigentlich Angst, als ihr 1990 mit der Volkszeitung zum Freitag fusioniert wurdet?

Jutta Voigt (Filmredakteurin, Reporterin, Ost): Na, Angst nicht. Wir hatten im Sonntag 1990 die Hoffnung, dass uns die feine Zeit übernimmt. Gerd Bucerius hat uns in unserer Redaktion besucht …

Lücke: Und musste aufs Damenklo gehen, weil das Herrenklo kaputt war, wie das ganze Haus …

Voigt: Stimmt. Wir warteten also darauf, im Hafen der feinen Zeit zu landen, woraus leider aus Geldgründen nichts wurde. Stattdessen kam Stefan Reinecke mit dreckigen Fingernägeln. Nix mit edler Zeit – stattdessen die Schmuddelkinder von der DKP. Das war so, als würden wir jemand aus einer Handwerkerfamilie heiraten müssen.

Reinecke: Ich hatte mit der DKP nichts am Hut – im Gegensatz zu den Politredakteuren wie Franz Sommerfeld. Ich fürchte aber, dass du mit den Fingernägeln möglicherweise Recht haben könntest.

Voigt: Ihr wart für mich Wohngemeinschaft plus DKP. Wobei wir ja auch aus dem Mief kamen.

Magenau: Wieso gab es eigentlich die Fusion von Sonntag und Volkszeitung?

Lücke: Es ging auch ums Geld. Der Sonntag hatte ja zwei Millionen Mark West vom Kulturbund bekommen. Deswegen waren wir interessant für die Verleger des Freitag. Die wollten unser Geld – während ihr beide aus Interesse kamt.

Wir haben uns im Sommer 1990 mal im Café getroffen. Ihr wolltet immer konkret darüber reden, was für eine Zeitung wir machen wollen – während wir erst mal abwarten wollten, wie es wird. Anfangs haben wir uns wenig verstanden.

Voigt: Reinecke kam zu mir und sagte: Ich bin auch Filmkritiker. Wir mussten uns also einigen, wer Filmkritiker beim Freitag wird. Das ging ziemlich schnell …

Reinecke: … weil du kein Lust mehr hattest, Filmkritiker zu sein, aber nichtsdestotrotz so getan hast, als würdest du ein großes Opfer bringen …

Voigt: Stimmt. Ich wollte Reportagen schreiben.

Magenau: Das war die Tradition des Sonntag: die Beschreibung des Alltags, nicht Theorie, nicht Politik, sondern schön geschriebene Texte, die eigentlich Literatur sein wollen.

Lücke: Hier Politik, dort Alltag, dieser Gegensatz stimmte nicht für die DDR. In der DDR war jede genaue Alltagsbeschreibung politisch.

Voigt: Konkret und detailliert beschreiben, das wollten wir.

Reinecke: Jutta, ich habe deine Reportagen sehr bewundert. Aber mich hat damals etwas gestört – die Idee, dass man die Wirklichkeit vollständig durch Beschreiben erfassen kann. Mir war klar, dass die Alltagsbeschreibung unter Bedingungen der DDR-Öffentlichkeit subversiv war.

Aber 1990 fand ich diese Haltung naiv. Wir wussten doch: Wie die Dinge aussehen und was sie sind, das ist nicht das Gleiche …

Magenau: Wir haben an das berühmte Brecht-Zitat geglaubt, der beim Betrachten eines Fotos der Krupp-Werke schrieb: Die Wirklichkeit ist in die Funktionale gerutscht. Das habt ihr anders gesehen.

Lücke: Wir hatten keine Neigung zur Theorie. Die war ja gerade gescheitert.

Voigt: Ihr wolltet das Publikums belehren. Ihr wolltet Thesen, und wenn ich etwas nicht wollte, dann waren es Thesen.

Magenau: Das fand ich erschreckend bei euch. Diese völlige Abwesenheit von Theorie …

Voigt: … und von Phrasen.

Magenau: Schön beschrieben ja – aber was sollte es?

Voigt: Dir fehlte der Erkenntnisgewinn.

Magenau: Ja.

Voigt: Das Wort habe ich gehasst.

Reinecke: Das Produktive am Freitag waren die Reportagen. Wir haben dem misstraut, nicht weil wir so links waren, sondern weil wir ganz postmodern Wirklichkeit für eine Erfindung hielten. Damals fand ich es naiv, vor die Tür zu gehen, zu beschreiben, was man dort sieht, und zu glauben, so könnte man die Wahrheit sagen.

Heute glaube ich, dass ihr Recht hattet – und wir mit unseren postmodernen Verblasenheiten auf dem Holzweg waren.

Lücke: Das klingt so, als hätten wir uns damals blockiert. Das stimmt doch gar nicht. Jörg, du hast damals angefangen, Alltag zu beschreiben – und ich habe Leitartikel geschrieben. Es gab Lernprozesse.

Magenau: Damals trafen zwei völlig verschiedene Öffentlichkeiten aufeinander. Im Osten wurde alles neu ausgerichtet: Die Hierarchien wurden neu geordnet, das ganze Alltagsleben veränderte sich für euch – während für uns nur eine halbe Redaktion aus dem Osten dazu kam. Das war ein Unterschied.

Reinecke: Ihr wart 20 Jahre älter als wir. Wir waren damals ja noch halbe Studenten.

Magenau: Und wir waren links.

Voigt: Eben. Deswegen haben wir befürchtet, dass ihr nur richtige Texte schreiben wolltet und keine guten.

Reinecke: Und stimmte das?

Voigt: In der Politik ja, in der Kultur nicht.

Lücke: Die Fronten in der Redaktion verliefen doch schnell nicht mehr nach Ost-West-Schema. Du, Stefan, hast dich doch vor allem mit den Politik-West-Redakteuren angelegt …

Reinecke: Mich hat das Unprofessionelle gestört. Einfach irgendeine Überschrift zu machen, ohne so lange zu überlegen, bis man eine gute hat …

Voigt: Das Unprofessionelle kam aus dem Westen …

Magenau: … und das Langsame aus dem Osten. Prima Mischung.

Reinecke: Und die Politdebatten haben mich erstaunt. Ich war nie in Hard-Core-Politgruppen gewesen – und beim Freitag gab es Fraktionierungen, Reste von Kaderbewusstsein. Ich erinnere mich, dass mich ein Redaktionsleiter mal rauswerfen wollte und dafür argumentativ die Weltgeschichte herbeizitieren musste. Es gab Redakteure, die Zeitungmachen mit Politikmachen verwechselt haben. Inklusive Parteiausschlussverfahren. Ist euch das sehr auf die Nerven gegangen?

Voigt: Wir kannten das schon. Dieses ZK-Sitzungs-artige.

Reinecke: Na ja, so schlimm war es auch nicht.

Magenau: Ihr habt mit uns Westlern den Osten in Form von Politdebatten wieder bekommen – und wir haben mit euch den bildungsbürgerlichen Westen bekommen. Eigentlich waren wir die Ostler und ihr wart die Westler. Ihr hatte ja auch das Geld. Wir waren wirklich eine Ost-West-Zeitung – nur umgedreht.

Lücke: Wir waren keine typischen Ostler und ihr wart keine typischen Westler. Deshalb haben wir in der Kulturredaktion so schnell so gut harmoniert. Mit Matthias Matussek hätte das nicht geklappt.

Magenau: Wichtig war, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen konnten, dass es keine West-Ost-Hierarchie gab. Also nicht West-Chefs und Ost-Fußvolk. Wir mussten improvisieren. Es war eine offene Situation.

Lücke: Stimmt. Ich habe danach bei der Zeitschrift Das Parlament gearbeitet. Da gab es einen Kollegen, der mich oft fragte: „Und, was sagen Sie zu dem und dem Problem?“ Ich antwortete immer: „Ich heiße Detlev Lücke und nicht Detlev Ostdeutschland.“ Diese Projektionen waren lästig. Das gab es beim Freitag einfach nicht. Mich hat da keiner behandelt, als wäre ich der Pressesprecher der DDR.

Voigt: Warum eigentlich nicht?

Magenau: Wenn meine Ostkollegin im Freitag sich die Haare gebürstet hat, dann habe ich nicht gedacht: Aha, im Osten bürstet man sich alle halbe Stunde die Haare. Wir haben einfach darauf verzichtet, uns gegenseitig repräsentativ anzuschauen.

Reinecke: Und wir haben viel diskutiert.

Lücke, Voigt: Stimmt.

Reinecke: Am Ende der Diskussion haben wir meist beschlossen, etwas anders zu machen. Ihr, die Ost-Redakteure, habt dann genickt – und genauso weitergemacht wie immer. Das hat mich entnervt …

Voigt: Wir haben das Diskutieren gehasst. In der DDR mussten man dauernd diskutieren.

Reinecke: Aber ich war doch kein Parteibonze. Das war eine Verwechslung. Ich habe gefragt: Wie machen wir die Zeitung flotter? – und ihr habt gedacht: Schnell auf Tauchstation. Eine Ost-Redakteurin hat mir erzählt, wie sie zum Sonntag kam. Du, Detlev, hast ihr gesagt: „Wenn der Chefredakteur kommt und sagt, dies und das wird gemacht, dann nicken wir und machen gar nichts.“ Genau diese Haltung hatten ihr manchmal auch im Freitag. Und ich habe in ein großes Loch hineingeredet.

Lücke: Zu DDR-Zeiten war das eine Überlebensstrategie. Der Chefredakteur kam aus dem ZK und sagte: „Schreiben Sie etwas über Heidrun Hegewald.“ Dann nickte man und tat gar nichts.

Reinecke: Wer war das?

Lücke: Eine Lieblingsmalerin der Genossen. Ich habe es geschafft, nie eine Zeile über sie zu schreiben. Wenn, dann hätte ich schreiben müssen: Vernichtet diese Bilder! Das ging auch nicht.

Voigt: Wie habt ihr uns eigentlich gesehen?

Magenau: Ihr wart bürgerlich und unpolitisch.

Voigt: Also unpolitische Spießer?

Magenau: Ja, schon.

Reinecke: Nein, ich hab das anders gesehen. Wir waren ja Bürgersöhne, die vor dem saturierten, arroganten westlichen Bürgertum geflohen waren. Bei euch habe ich das Bürgerliche schätzen gelernt, weil ihr bürgerlich wart ohne dieses Statusdenken. Das fand ich faszinierend.

Lücke: Wir waren stolz darauf, bürgerlich zu sein. Das hatte mit der DDR zu tun Wir haben uns beim Sonntag gesiezt – in Abgrenzung zu diesem schrecklichen Genossen-Geduze.

Voigt: Die ganze DDR hat sich geduzt. Das war diese schmierige Kumpanei. Das „Sie“ war der Versuch, sich gegen die Vereinnahmung der Funktionäre zu wehren. Und dann kamt ihr und habt uns geduzt …

Reinecke: Ihr Armen. Habt ihr beide euch auch gesiezt?

Lücke: Ja, bis die Wende kam.

Reinecke: Und dann?

Lücke: Als die Mauer fiel, war klar, dass es mit der DDR den Bach runter geht. Da wussten wir: Jetzt ist eh alles egal. Jetzt können wir uns auch Duzen.