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Archiv-Artikel

Im hohen Turm der Nektarsauger

VORSICHT, FAMILIE! Der kanadische Regisseur Guy Maddin erfindet den Stummfilm neu. „Brand Upon the Brain!“ berichtet ironisch-albtraumhaft aus der Horrorkindheit seines Schöpfers

Maddins Films steigert sich hinein in die Psychologie von Kindern, denen die Libidokategorien der Erwachsenen nicht ganz einleuchten

VON JAN KEDVES

Es müssen ausgewiesene Weihnachts- und Familiengegner sein, die auf die Idee kamen, in Berlin pünktlich zum großen Fest Kinovorführungen von Guy Maddins „Brand Upon the Brain!“ anzusetzen. Der Stummfilm, der 2007 auf der Berlinale lief – wo er in der Deutschen Oper stilgerecht mit Orchesterbegleitung und Isabella Rossellini als Erzählerin aufgeführt wurde – hat zwar mit Weihnachten unmittelbar nichts zu tun. Doch muss er all jenen Elternhausflüchtigen aus der Seele sprechen, die ihr Leben seit Jahren wissentlich fern der Heimat führen und die es trotzdem auch diesmal wieder nicht übers Herz bringen zu sagen: „Mama, Papa: Weihnachten feiere ich ohne euch.“

Die Verbundenheit des Elternhauses und all jener Dinge, die man vermutlich einmal erben wird, mit verdrängt geglaubten Erinnerungen, um nicht zu sagen Traumata: Genau hierum geht es in Guy Maddins ironisch albtraumhaftem, halb autobiografischem Meisterwerk, das nun in einer regulär kinotauglichen Fassung vorliegt, gewissermaßen als Faux-Stummfilm mit eingespieltem Score und Isabella Rossellinis konservierter Erzählstimme. Mit bestechender Süffisanz berichtet diese aus Maddins Horrorkindheit, der Regisseur selbst übernimmt die Hauptrolle, zumindest dem Namen nach: Erik Steffen Maahs spielt den erwachsenen Guy, der von seiner greisen Mutter, die mal wieder eine Selbstmorddrohung einsetzt, um ihren Nachwuchs gefügig zu machen, nach Hause gelockt wird. Guy kehrt also nach dreißig Jahren in den unheimlichen, früher als Waisenhaus genutzten Leuchtturm auf der Insel Black Notch zurück. Dort befiehlt Mutter, Guy solle die Wände streichen. Doch beim Übertünchen der Risse im Mauerwerk stellt sich natürlich – Metapher! Metapher! – keine Freude ein, sondern die Vergangenheit bricht auf: Der junge Guy, gespielt von Sullivan Brown, durchlebt noch einmal, wie sein Wissenschaftler-Vater nachts im Geheimlabor den verschreckten Waisenkindern Nektar aus dem Gehirn saugt, auch muss er sich von seiner Mutter ekelhaft schmatzende Küsse auf den nackten Kinderpo drücken lassen, und er verliebt sich in den Freund (oder die Freundin?) seiner Schwester Sis.

Kurz: Guys Kindheit ist eine einzige Verstörung – und man schaut ihm dabei höchst fasziniert und gleichfalls verstört zu, denn „Brand Upon the Brain!“ ist nicht nur ein detailversessen nachgebildeter Stummfilm inklusive körniger Schwarzweißbilder und eingeblendeter Texttafeln, sondern Maddin bricht die erzielte Ästhetik gleichzeitig dadurch, dass er die Schnittfrequenz zu einem nervösen Stakkato beschleunigt. Das Publikum in den Zwanzigern kannte ein solches Tempo noch nicht, geschweige denn wäre es damit zurechtgekommen. So wie „Brand Upon the Brain!“ sind heute höchstens die Köpfe von Computerkids mit Hyperaktivitätssyndrom getaktet.

„Brand Upon the Brain!“ wuchert mit absurden Ideen und einem wirr-queeren Subplot: Allein im Entwurf des sogenannten Aerophones, mit dem die Mutter den Kindern auf der ganzen Insel direkt ins Gewissen funkt, steckt düsterste Kinderfantasie; und dass die Kinderdetektivin Chance, die auf die Insel gekommen ist, um die Geschichte hinter den mysteriösen Nektarsaugmalen aufzuklären, aussieht wie ein Junge, stört Guy nicht: Er entwickelt trotzdem einen satten „boy crush“. Radikaler hat sich bislang kaum ein Film in die Psychologie von Kindern, denen die Geschlechtertrennung und die Libidokategorien der Erwachsenen noch nicht ganz einleuchten wollen, hineingesteigert.

Guy Maddin, der behauptet, sein Mix aus „Die Drei ???“, expressionistischem Horrorfilm und der Genderkomödie à la Shakespeares „Wie es euch gefällt“ basiere zu 96 Prozent auf Selbsterlebtem, betreibt hier nicht nur Trauma-Exorzismus, er feiert die Kindheit als Zeit der bedingungslosen Neugier, des Misstrauens und auch der produktiven Paranoia. Wer als Kind ein bisschen wie die Hauptfiguren in „Brand Upon the Brain!“ Detektiv oder Spion im eigenen Auftrag war, wird vermutlich zu jenen Menschen gehören, die sich dieser Tage doch – statt in Berlin ins Kino zu gehen– dazu entschließen, nach Hause zu fahren. Und sei es nur, um in der eigenen Vergangenheit mal nach dem Rechten zu sehen.

■ „Brand Upon the Brain!“. Regie: Guy Maddin. Mit Greten Krich, Sullivan Brown. Kanada 2006, 95 Min.