: Lass uns nicht über Spex reden
Wer hat die Hegemonie im Popdiskurs? Ulf Poschardt wirft Diedrich Diederichsen Realitätsverlust vor, Dietmar Dath wünscht der Popkulturlinken den Weltbürgerkrieg an den Hals. In der Popkritik tobt ein Erbfolgekrieg um die Hinterlassenschaft der „Spex“ und die Definitionsmacht darüber, was real ist
VON TOBIAS RAPP
Vatermorde sind keine schöne Angelegenheit. Vor allem dann nicht, wenn sie in dem kulturellen Feld stattfinden, das immer noch einen gewissen Charme der Jugendlichkeit versprüht, auch wenn der vor allem einer großen Vergangenheit geschuldet ist und es eigentlich längst um anderes geht. Doch genau damit fängt das Problem an. Denn so richtig erschließt sie sich nicht, die eigenartige Debatte, die da seit einigen Wochen durch die deutschen Feuilletons geistert, regelmäßig an Theaterfoyers, Kneipenthresen, Galerieräumen und Diskothekensofas Halt macht und doch nie auf den Punkt zu kommen scheint: die Poschardt-Debatte.
Nennen wir sie ruhig so. Schließlich begann sie mit einem Essay ebenjenes Ulf Poschardt – ehemaliger Chef des Magazins der Süddeutschen Zeitung, Autor mehrerer Bücher über Pop und Mode sowie Ex-Mitglied der Chefredaktion der Welt am Sonntag – in der Zeit, in dem er der popinteressierten Öffentlichkeit versuchte klar zu machen, dass von der Popkultur lernen heiße, sein Kreuzchen bei der FDP zu machen. Unabhängig davon, und doch nur zwei Tage später, hieß es dann im „Was ist heute links?“-Dossier dieser Zeitung, Poschardt sei wohl das Hirn in die Brieftasche gefallen.
Damals regierte noch eine rot-grüne Bundesregierung und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Aufregung, die sich in den folgenden Wochen in diese Debatte hineinkanalisierte, dürfte wohl der Unsicherheit geschuldet sein, was es denn bedeute, dass diese kurz darauf abgewählt wurde – in der taz reichte Poschardt der Linken die Hand, diese wurde weggeschlagen, er legte in der Weltwoche und im Spiegel nach und wurde mit noch mehr Ablehnung bedacht. Dass gerade Ruhe ist, dürfte jedenfalls nicht daran liegen, dass irgendeine Frage geklärt wäre: Eher sitzen alle in ihren Eckchen und brüten über dem Frontverlauf – der ist ziemlich unübersichtlich.
Dabei könnte man es nun belassen – würde nicht gerade der Umstand, dass es so schwierig ist, zusammenzufassen, um was es in der Debatte ging, einen eigenartigen Kontrast zu ihrem scharfen Ton bilden. Und gäbe es nicht jenen Klotz von einem Buch, das sich in einem noch schärferen Ton an dem gleichen Komplex abarbeitet: „Für immer in Honig“, der fast tausendseitige Sciencefiction-Roman, den der ehemalige Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex und nunmehrige FAZ-Feuilletonredakteur Dietmar Dath vor einigen Monaten herausgebracht hat.
Denn neben all den anderen Handlungssträngen, die dieses Buch auch präsentiert – grob gesagt zettelt eine Gruppe von mathematisch und leninistisch geschulten Übermenschen einen Weltbürgerkrieg an, der einige Millionen Tote mit sich bringt, aber zur weltweiten kommunistischen Revolution führt –: Auch „Für immer in Honig“ ist eine Abrechnung mit jenem Milieu, das Poschardt so gerne als FDP-Wählern sehen würde: die Poplinke und – sprechen wir es endlich aus – ihrer Zentralfigur: Diedrich Diederichsen. Und aus so unterschiedlichen Richtungen hier geschossen wird: Das Feld der Auseinandersetzung ist das gleiche. Diederichsen und der Poplinken wird die Fähigkeit abgesprochen, noch Zugriff auf die Realität zu haben. Es ist der Versuch, dem Übervater der deutschen Popkritik sein Gebiet streitig zu machen, ihm das Haupt abzuschlagen.
Wenn sich Poschardts Position noch recht einfach in dem ihm zugeschriebenen Bonmot „Am liebsten würde ich Diederichsen fragen, wo lebst du eigentlich? In der Volksbühne oder in Deutschland?“ zusammenfassen lässt, gestaltet sich das bei Dath schon schwieriger. In einem riesigen Rundumschlag geißelt er in „Für immer in Honig“ das Auseinanderfallen revolutionärer Praxis und Theorie. Doch auch wenn man einen Roman nicht mit einem Essay verwechseln sollte: Das Buch endet mit einem Anhang, in dem Dath Lenins „Staat und Revolution“ zur Lektüre empfiehlt und hinzufügt, „Sonstige AnführerInnen werden nicht gebraucht, schon gar nicht die linksverkleideten aus gutem Hause mit dem schlechten Gewissen, dem uralten Dünkel und der großen Dummheit. Jagt sie weg!“
Dazu passend lässt der Roman keine Gelegenheit aus, das Gerede zu geißeln, mit dem sich die undogmatische Kulturlinke in den vergangenen 25 Jahren die Zeit vertrieben hat. Dath prangert die Art von außerakademischer Theoriebildung von Adorno über Foucault, Deleuze, Hall und Butler bis zu Negri/Hardt, für die Diederichsen (ob er will oder nicht) in Deutschland steht, als genau das an, was sie für Poschardt eben auch ist: konsequenzlos, weil nicht in der Realität verankert. Und wenn doch, dann eben in einer kleinen Partikularrealität, die sich von den großen und drängenden Fragen der Gegenwart verabschiedet hat. Eine Nische, aus der man keine Politik mehr zu machen in der Lage ist. Nicht mehr Deutschland verändern kann, wie Poschardt wahrscheinlich sagen würde, oder, das wäre Daths Sicht, vor lauter Vernunftkritik das Allervernünftigste vergessen hat: die Revolution nämlich.
Nun sind sich Poschardt und Dath in ihrem Werdegang zwar ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag – beide haben in den Neunzigern im weiten Feld der Popschreiberei ihre Spuren hinterlassen, beide sind mittlerweile bei großen Verlagen angestellt, wo sie sich auch mit anderen Dingen beschäftigen: Wissenschaftsjournalismus bei Dath, Blattmacherei bei Poschardt. Dass ihnen dies gelang, hat wiederum einiges mit der Poplinken im Allgemeinen und vor allem Diederichsen im Speziellen zu tun: Letzterer war der Gutachter von Poschardts Doktorarbeit, die unter dem Titel „DJ-Culture“ dann das Buch wurde, das ihm einige Türen öffnete. Dath war der letzte Spex-Chef bevor das Magazin verkauft wurde – Diederichsen war damals einer der Herausgeber.
Doch so sehr sich die Intensität ihrer Attacken auch aus dem Bedürfnis nach Wegräumen des Übervaters speisen dürfte – interessant ist noch etwas anderes. Das Feld selbst, in das Dath und Poschardt die Auseinandersetzung getragen haben. Die Realität, beziehungsweise das, was die Beteiligten dafür halten. Zunächst haben die beiden nämlich in einem zentralen Punkt Recht: Das Bedürfnis der Linken nach groß angelegter Weltveränderung lässt gegenwärtig zu wünschen übrig. Selten schafft sie es, „Risiken als Chancen zu sehen“, wie Poschardt wahrscheinlich sagen würde; „eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln“, wäre Daths Variante.
Dieser Befund käme allerdings ganz gut ohne Diederichsen und die Popkulturlinke aus. Doch die real existierende Linke ist für Dath wie Poschardt auch gar nicht wichtig. Es ist ein Erbfolgekrieg um die Hinterlassenschaften der Spex, der hier tobt. Es geht um kulturelle Hegemonie. Und der, der über sie bestimmt, darf sagen, was real ist. Denn so klein die verkaufte Auflage auch gewesen sein mag, die Bedeutung des Magazins ist kaum zu unterschätzen: Gerade weil auf ihren Seiten immer wieder höchst überzeugend kleiner Pop und große Welt, individuelles Glücksversprechen und globale Weltlage verknüpft wurden, um sowohl ihren Mitarbeitern, als auch denen, die nicht mitmachen durften, klar zu machen, was richtig und was falsch ist. Und hier enden die Parallelen zwischen Dath und Poschardt dann auch schon. Mit einer großen, zutiefst romantischen Geste reklamiert Dath das utopische Erbe der Spex und will nun endlich die Konsequenz einfordern, deren Ausbleiben allerdings immer Bedingung ihrer glaubwürdigen Behauptung war.
Poschardt geht es um mehr. Er will reale Politik machen. Er möchte seine Vorstellungen eines sich reformierenden Deutschlands mit einem eigenverantwortlichen Bürgertum als Trägerschicht hipper Zeichen an die Stelle setzen, wo bei Diederichsen immer noch ein antibürgerlicher Restekel regiert, der im Zweifelsfalle auf das Minoritäre setzt. Wobei er dabei mehr von Diederichsen gelernt hat, als beiden recht sein dürfte. Denn so profiliert Diederichsen als Spex-Herausgeber war und als Autor für alle möglichen Zeitungen von Jungle World bis Süddeutsche heute immer noch ist – seine Behauptungen und ästhetischen Richtungsangaben konnten ihre Kraft auch deshalb entfalten, weil er niemals müde wird, sie als Lobbyist hinter den Kulissen durchzusetzen. Er mag nicht der einzige gewesen sein, der in der Jury saß, die die Bundeskulturstiftung bei der Vergabe ihrer Gelder beriet, doch es gab Partys linker Kulturschaffender in den letzten Jahren, wo die Zahl derjenigen, die ihre Miete direkt oder indirekt von der Bundeskulturstiftung bezahlt bekamen, locker die Zahl überwog, die sich anderswo ausbeuten. Umso abstruser natürlich Poschardts Vorwurf, Diederichsen hätte die Verbindung zur Realität verloren. Dies ist Realpolitik. Sie glaubt bloß nicht, dass Deutschland und die Volksbühne sich ausschließen müssten.
Nun ist Deutschland aber nicht die Volksbühne und Poschardts Eindruck, in einem Land zu leben, das es sich unter einer Hegemonie der Linken bequem gemacht hat, objektiv wahrscheinlich falsch (wer weiß das schon genau, dafür gibt es keine Messgeräte). Doch das Feld, wo sich Poschardt gerne Bestätigung abholen möchte, das Milieu der urbanen, popkulturinteressierten Bürgerkinder, zappelt trotz aller Versuche junger Konservativer, das zu ändern, eben nicht an den Fäden der kulturellen Neokons aus Spiegel und FAS, Monopol und Der Freund. Sonst könnte Poschardt andere Gewährsleute benennen, als immer wieder auf die drittklassige Krimiautorin Thea Dorn zurückgreifen zu müssen.