Patent auf lebenslänglich: Der Mörder und sein Motor

Jürgen F. sitzt wegen Mord im Gefängnis - lebenslänglich. Weil er niemanden mehr hat und um sich die Zeit zu vertreiben, erfand er einen Motor und hat ein Patent angemeldet.

In seiner Sieben-Quadratmeter-Zelle tüftelt Jürgen F. an seinem Motor. Bild: simon garreis

Um Jürgen F. zu treffen, sind viele Türen, Gänge und Schleusen zu durchqueren: Denn er ist im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt in Werl, einem kleinen Städtchen nahe Dortmund, inhaftiert. Man begegnet sich relativ informell auf dem Gang, um anschließend in eine klassische Verhörsituation überzugehen. Dazu steht ein Raum bereit, der genau zu diesem Zweck gestaltet worden zu sein scheint: bedrückende Enge, kleine Fenster, Basismobiliar. Neben dem Häftling sitzt sein eifriger Anwalt, während der Wachmann die Tür flankiert, vertieft in eine Zeitung, ganz wie man es von ihm erwartet. Die Unterhaltung im Frage-Antwort-Schema macht dieses x-mal gesehene "Tatort"-Setting dann komplett. Doch der äußere Anschein trügt, denn man hat sich lediglich versammelt, um zuzuhören. Gestanden hat dieser Häftling bereits alles, und das ist schon zehn Jahre her.

Jürgen F., 42, ist groß, hager und hat eingefallene Wangen. Er trägt blaue, abgenutzte Arbeitskleidung, ist unrasiert und die Haare wachsen ihm schon ein bisschen aus den Ohren. Alles in allem macht er einen ziemlich verwitterten Eindruck. Besonderes Kennzeichen: seine Brille, die in den ersten Sekunden alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, wegen der pink- und fliederfarbenen Sprenkel auf dem Gestell.

Seit er hier ist, hat er seine gesamte Energie einem Thema gewidmet: dem Motorenbau. Damit hat er sich von einem Kriminellen ohne Schulabschluss quasi in die Liga der Erfinder, wenn man so will, katapultiert. Seine Vision ist es, einen Motor zu bauen, der mit äußerst geringen Emissionswerten arbeitet, der sämtliche Möglichkeiten der Energierückgewinnung nutzt und so den Kraftfahrzeugverkehr revolutionieren könnte. Dass seine Erfindung das kann, davon ist er zumindest überzeugt. Bei diesem Thema wird er redseliger, schweift ab und verliert sich - ganz der Visionär und Experte - in Anwendungsszenarien. Dabei blitzt ein Charakterzug auf, der seinem gebrochenen Wesen bislang fehlte: Stolz, auf sich und auf seine Sache. Zumindest was die betrifft, darf er es auch sein, gelang es ihm immerhin, ein Patent anzumelden - aus dem Gefängnis heraus. "Ich habe denen vom Patentamt bewiesen, dass es geht", versichert er eindringlich und ohne jeden Zweifel. Er ist einer, der vielleicht erst eingesperrt werden musste, damit er sich, wie er selbst sagt, auf eine Sache konzentrieren konnte. So wurde er zum Gefängnis-Autodidakten.

In jedem Falle bemerkenswert daran ist, dass er bei Haftantritt nichts vom Motorenbau in seinem Kopf hatte, außer dem Funken einer Idee, der noch aus Kindertagen darin herumspukte. Er ist weder Ingenieur, noch hat er eine entsprechende Ausbildung. Den theoretischen Hintergrund studierte er sich über die Bibliothek der JVA an, teilweise durfte er auch Bücher von draußen beantragen. Sein Antriebskonzept erklärt er ausgiebig und gerne. Es basiert auf einem Medium wie Druckluft oder Wasser, welches entweder eine Turbine oder mehrere Kolben in Bewegung setzt. Über Batterien angetriebene Kompressoren sollen den nötigen Druck zu Verfügung stellen. Das sind für sich genommen bekannte Ideen, sagt er, doch liegt seine Innovation in der Kombination der Komponenten zur Energierückgewinnung: Anstatt eines Kühlergrills sollen Windräder einen großen Teil des Fahrtwindes in elektrische Energie umwandeln. Auch über Klappen und Ventile an der Karosserie möchte er Windenergie abgreifen und das Ganze mit der schon üblichen Bremskraftnutzung ergänzen.

Mit dieser Vision ist Jürgen F. nicht allein - viele "gelernte" Erfinder haben ähnliche Konzepte entwickelt, was die von seiner Idee berührten Patente belegen. Gerne würde er mit ihnen zusammenarbeiten. Doch Kontaktaufnahmen mit der Autoindustrie blieben erfolglos, "die blocken ab". Sein damaliger Anwalt versuchte es auch bei einem Patentnetzwerk und der Industrie- und Handelskammer Dortmund. Zum Teil stieß man gar auf Interesse, das schließlich im Sand verlief. Mittels staatlicher Prozesskostenhilfe gelang ihm über eine Patentkanzlei schließlich die Sicherung seiner Idee.

Im unteren Teil der Skizze (siehe oben) befindet sich ein Kolbenkompressor mit drei von links nach rechts angeordneten und verkürzt dargestellten Kolben. Er wird durch einen Elektromotor angetrieben, der nicht eingezeichnet ist. Die Kolben komprimieren Luft, die dann über Leitungen in das in fünf Kammern unterteilte Gehäuse eingespeist wird. In jeder dieser Kammern sitzt ein Schaufelrad, das eine quer liegende, gemeinsame Welle antreibt. Um die Geschwindigkeit zu regeln, lässt sich der Lufteinlass durch Ventile einstellen. Über die links und rechts angeordneten Luftzuleitungen lässt sich auch die Drehrichtung der Welle ändern und macht so ein Getriebe mit Rückwärtsgang überflüssig. Die elektrische Energie zum Antrieb stellen mehrere Akkus zur Verfügung, die von einer Lichtmaschine gespeist werden. Dabei werden drei Möglichkeiten der Energierückgewinnung genutzt: zum einen die Bremskraftnutzung, zum anderen Energie, die durch Windräder erzeugt wird, die anstatt eines Kühlergrills an der Fahrzeugvorderseite angebracht sind. Dazu kommen verschiedene Klappen an der Karosserie, über die der Fahrtwind in das Drucksystem eingespeist werden kann. So soll der Motor 40 Prozent der aufgewendeten Energie zurückgewinnen und eine Fahrleistung von 1.500 bis 2.000 Kilometer erlauben.

In seiner Sieben-Quadratmeter-Zelle angekommen, ist - wie wäre es auch anders zu erwarten - kaum Platz für mehr als eine Person. Alles darin, das Schlaflager, der mickrige Tisch, der Schrank, das Spülbecken, ist nur einen Handgriff entfernt. Auf seiner Pritsche hat er Teile für ein Modell aufgebaut, für eine Anmutung seiner visionären Idee. Da liegen ein zugeschnittener Pappkarton, diverse Jogurtbecher, Rundhölzer und Kaffeedosen, zum Teil miteinander verklebt. Im Vergleich mit seinen hochtrabenden Ambitionen wirkt das alles äußerst kläglich. Doch er ist sehr dankbar, diese Materialien, die in der JVA abfallen, überhaupt verwenden zu dürfen.

Sein Tor zur Welt ist hier ein klitzekleiner Fernseher, sein einziger Quell äußerer Aktualität. Er erzählt, wie seine Mitgefangenen ihn "für einen Ingenieur aus der gehobenen Berufsklasse" halten und ihm ausweichen. Beim sogenannten Umschluss, wo man sich Zellenbesuche abstatten kann, nimmt er kaum teil. "Ich war schon immer ein Einzelgänger", sagt er. Die einzigen sozialen Kontakte mit Leuten von außerhalb hat er über seinen Anwalt und eine ehrenamtlich engagierte Familie. Verwandte und Freunde: Fehlanzeige.

Sein Erfinderstolz wiegt nichts im Vergleich zur Schuld, die auf ihm lastet. "Ich schäme mich, und das ist das Schlimmste", sagt er. Denn vor etwas mehr als zehn Jahren brachte er seine damalige Lebensgefährtin um, die drei Kinder hinterließ. Sie lebten schon drei Jahre unter einem gemeinsamen Dach. Er hatte sie "weggeholt von einem anderen Mann, der sie verprügelte". Diese Gewalt gab die Mutter weiter an ihre Kinder. Für Jürgen F. nichts Neues - er selbst ist nicht anders groß geworden. Heute nennt er es "unglaublich", dass er selbst sein "Leben lang nicht eine Frau oder ein Kind geschlagen" hat, dann aber komplett die Kontrolle verlor: "Der Streit, der Angriff auf die Kinder, dann habe ich zum Seil gegriffen, und dann war es passiert", so fasst er es knallhart zusammen. Für ihn eine Beziehungstragödie: "Es war keine bewusste Tat, es war eine traumatische Reaktion." Die er aufrichtig bedauert, vor allem wegen der Kinder. Er sagt immer wieder, er hätte seine Mutter umgebracht, nicht das eigentliche Opfer. Er habe sie "lachend vor sich gesehen", wie sie ihn "einen Waschlappen und Versager" schimpfte. So habe er seine "Kindheit im Erwachsenenleben noch mal erlebt", durch eine Projektion der Mutter auf seine Lebensgefährtin.

Mit Dosen und Bechern versucht er, Modelle seiner Erfindung nachzubauen. Bild: simon garreis

So wie er es erzählt, bleiben viele Details unklar und die Tatumstände insgesamt diffus. Ganz im Gegensatz zu seinem Antriebskonzept, das er relativ logisch beschreiben kann. Er hat sich eine Eigenkonstruktion gebaut, die der Realität zwar nicht völlig entbehrt, die Fakten jedoch sprechen eine andere Sprache. Demnach gab es mehrere Motive und mehrere Täter. Zu zweit wurde das Opfer in ein abgelegenes Haus gelockt und erdrosselt. Die Richter hielten den Tatbestand eines heimtückischen, geplanten Mordes für erfüllt und zogen keine strafmildernden Umstände heran. Beide bekamen lebenslänglich. Damals, in U-Haft, wurde er als jemand klassifiziert, "bei dem geringste Anlässe ausreichen, Menschenleben auszulöschen", wie er es selbst zitiert. "Wenn das so stimmen würde, möchte ich nie wieder rauskommen", sagt er dazu. Von diesem bedrohlichen Eindruck fehlt jede Spur, heute wirkt er einfach nur harmlos, schwach und entrückt.

Die Zukunft ist ein schwieriges Thema für ihn. Sein Anwalt Marco Ostmeyer schätzt, "dass er mit etwas Glück vielleicht nach insgesamt 18 Jahren rauskommt. Es können aber auch 25 sein." Das noch ferne Ziel ist für Jürgen F. der offene Vollzug in Kombination mit psychologischer Betreuung. Vorher will er noch eine Maurerlehre machen, denn er will hier "nicht versauern". Sein Motor gibt ihm den Antrieb, weiterzumachen, hält ihn zumindest als Idee am Laufen, doch weiß er auch, dass er damit nichts ungeschehen machen kann: "Selbst, wenn das Patent ein Riesenerfolg sein sollte - glücklich werden kann ich damit nicht. Ich habe den Kindern ihre Grundlage zerstört." Sollte er mit dem Motor jemals Geld verdienen, möchte er ihnen notariell ein Drittel abtreten.

Ob er irgendwann so etwas wie ein neues Leben beginnen kann, weiß er nicht. Ob sein Antrieb die hohen Erwartungen erfüllt oder nur ein Hirngespinst darstellt, kann er auch nicht richtig einschätzen. Auf jeden Fall ist beides untrennbar miteinander verschmolzen, denn für ihn steht fest: "Der Motor ist mein Lebenswerk." Eines, das für zwei Leben reichen muss, denn viel mehr wird er vom alten ins neue nicht mitnehmen können, wenn es eines Tages so weit ist.

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