Lehrerin zwischen Überforderung und Frust: "Gymnasium nimmt keine Rücksicht"

Ursula Rogg unterrichtete vier Jahre lang an einem Gymnasium im sozialen Brennpunkt Berlin Neukölln. In ihrem "Frontbericht aus dem Klassenzimmer" schildert sie ihre Erfahrungen.

"Die Schule muss zum Lebensort werden. Sie muss auffangen, was zu Hause versäumt wurde. Das können die Lehrer nicht allein." Bild: dpa

taz: Das Foto dort, sind das ihre Schülerinnen?

Ursula Rogg: Die beiden Mädchen im rosa Pullover, das waren zwei Schülerinnen von mir. Das Bild ist bei unser Klassenfahrt entstanden. Heute tragen beide Kopftuch.

Wissen Sie was aus den Siebtklässlern von damals geworden ist?

Nein, ich habe nur noch Kontakt zu einigen älteren Schülern.

Sie haben über ihre Jahre als Lehrerin an der Schule ein Buch geschrieben: über Schüler, die weder ihre Muttersprache noch die deutsche Sprache beherrschen und überforderte Lehrer "bandscheibengeplagte Misanthropen, Alkoholiker und Berufsphobiker". Gab es eigentlich auch positive Reaktionen?

Ganz eingeschränkt. An der Schule herrscht riesige Empörung. Ich bin die Verräterin. Es geht bis zu dem Vorwurf, ich hätte Leben zerstört. Der Direktor stellt das Buch als reine Verleumdung dar. Das verstehe ich nicht, man könnte auch damit arbeiten. Einige ehemalige Schüler haben gesagt, es war für sie ein Erlebnis, dass jemand darüber spricht, was an der Schule passiert.

Wie erklären Sie sich die Ablehnung?

Ich habe mit Widerstand und Gekränktheit gerechnet, aber auch erwartet, dass akzeptiert wird, dass ich dieses Buch für Schüler und Lehrer geschrieben habe. Es ist im Einzelfall nicht immer schön und die Zeit mit dem Kollegium war problematisch. Aber mit ein bisschen Abstand kann man auch sagen: stimmt, so ist es. Die Front verläuft eben nicht zwischen Lehrern und Schülern, sondern wir stehen gemeinsam tagtäglich an der Front. Und dahinter befindet sich ein erstarrtes kaltes System unter dem wir alle leiden.

Beschreiben Sie mal die Symptome!

Das fängt an bei den baulichen Gegebenheiten: es war dreckig, hallig und eng. Es geht weiter mit der Schulspeisung: ein ungesunder Fraß, der in Plastiktöpfen im Treppenhaus rumsteht. Das Hauptproblem aber ist, dass das Gymnasium eine starre, reformresistente Schulform ist. Es nimmt keine Rücksichten auf Kinder, die aus nichtbürgerlichen, sprachlich nichtdeutschen Elternhäusern kommen.

Wieso scheitern gerade diese Kinder am Gymnasium?

Die einzigen Reformen, die die Gymnasien in den letzten Jahren erfahren haben, waren noch mehr Prüfungen. Von ursprünglich 140 Schüler haben 2007 gerade mal 34 das Abitur geschafft. Und mit der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit haut es uns die letzten aus der Kurve.

Warum?

Die Schüler müssen in dem gleichen Tempo wie ein deutscher Schüler den Stoff verarbeiten - und das in einer Fremdsprache. Oftmals mit einem familiären und sozialen Hintergrund, der das nicht begünstigt und unterstützt. Sie müssen sowieso schon eine Wahnsinns-Leistung erbringen, um Abitur zu machen. Das noch einmal zu verkürzen und zu verdichten ist absolut kontraproduktiv.

Sie sehen die Schüler sind Opfer?

Ja natürlich.

Ist das, was Sie am Neuköllner Gymnasium erlebt haben, exemplarisch für Schulen in sozialen Brennpunkten?

Das Gymnasium, an dem ich jetzt unterrichte, liegt auch im Problemkiez. Die meisten Schüler sind nicht-deutscher Herkunft und haben keine Gymnasialempfehlung. Es gibt dort aber zusätzliche Leute an der Schule, wir haben einen schulpsychologischen Dienst und einen türkischstämmigen Sozialarbeiter. Der ist Gold wert. Er spricht fließend Deutsch, Türkisch und Arabisch und ist gerade für die Jungs eine ganz große Vertrauensfigur. Natürlich ist es in den Klassen auch laut und chaotisch, die Kinder vergessen ihre Arbeitsmaterialien und haben überhaupt eine schwierige Haltung zum Lernen. Ich sehe bestimmte Kernprobleme ganz parallel: sprachliche Probleme,ein kulturelles Defizit und wenig Unterstützung von zu Hause.

Haben Sie Kontakt zu den Eltern?

Wenig. Es gibt Eltern, die auf mich zukommen, das sind aber eher solche, die in gemischten Ehen leben. Oder türkische Frauen, die jenseits der traditionellen Rollenklischees leben, Alleinerziehende zum Beispiel. Ansonsten verlaufen Gespräche fast immer so, dass die Väter zum Elternsprechtag kommen, sich hinsetzen und sagen: "Erzählen sie doch mal etwas über mein Kind." Oft ist ein Geschwisterkind dabei, das dolmetschen muss. Manchmal muss der betroffene Schüler selber übersetzen.

Andererseits hegen gerade diese Eltern die Hoffnung, dass ihre Kinder über das Gymnasium den sozialen Aufstieg schaffen. Wie kann das überhaupt gelingen?

Die Schule muss zum Lebensort werden. Sie muss auffangen, was zu Hause versäumt wurde. Das können die Lehrer nicht allein. Wir bräuchten Schulen mit Sozialarbeitern, Schulspeisung, Bewegungsangeboten. Wir müssen mit Sportvereinen und Musiklehrern zusammenarbeiten.

Es gibt Gymnasien, die achten streng darauf, dass die Migrantenquote nicht über 30 Prozent steigt. Was halten Sie davon?

30 Prozent ist eine tolle Quote, auch für die deutschen Kinder. Dann passiert nämlich etwas Tolles: beide Gruppen können voneinander profitieren. 700 m Luftlinie von meinem jetzigen Gymnasium liegt eines, an dem fast ausschließlich deutsche Schüler lernen, eine homogene Mittelschicht. Jenseits und diesseits der Bernauer Straße existieren unterschiedliche Leben.

Die Bernauer Straße, das ist die Straße, wo früher die Berliner Mauer verlief.

Ja, und dort verläuft sie noch immer. Zwischen den beiden Schulen steht eine undurchlässige soziale Mauer.

Wie überwindet man diese soziale Mauer - indem man die Hürden zum Abitur senkt?

Nein, die Anforderungen zu senken bringt nichts, denn dann werden die Hochschulen Zugangsbeschränkungen einführen. Wir müssen mehr Leute besser ausbilden. In diesem Zusammenhang ist die Einheitsschule bis zur zehnten Klasse keine schlechte Überlegung.

Das sagen Sie, eine Gymnasiallehrerin?

Mich beschäftigen diese Jugendlichen. Ich habe mir deren Probleme ein wenig zu eigen gemacht. Und mich beschäftigt dieses unglaubliche Schweigen: alle reden über die Bildungsmisere, und an den Schulen bewegt sich nichts.

Wann haben Sie angefangen, sich für die Gemeinschaftsschule zu begeistern?

Während meiner Zeit des Unterrichtens in Berlin, vorher nicht. Ich bin in Bayern zur Schule gegangen und habe dort meine praktische Lehrerausbildung, das Referendariat, gemacht. Als ich nach Berlin-Neukölln kam, habe ich gedacht: das kann kein Gymnasium sein. Wenn der Schüler es nicht schafft, dann hat er hier nichts verloren. Aber schon im ersten Jahr habe ich erkannt, dass es darum nicht geht. Vielmehr muss die Schule den Schülern gerecht werden, und sie mit all ihren Problemen zu einem vernünftigen Schulabschluss bringen.

Und was meinen Ihre Schüler zur Einheitsschule?

Ich habe gerade eine Diskussionsrunde mit Schülern an meinem jetzigen Gymnasium. Einer meint: wir müssen aus dem Gymnasium wieder ein Gymnasium machen. Und dann sagt ein anderer aus der 12. Klasse: "Moment, ich hatte eine Hauptschulempfehlung und sitze immer noch hier. Und ich habe viele gehen sehen." Es kommt darauf an, wie diese Einheitsschulen ausgestattet sind, dann kann das ein ganz prima Modell sein.

Sehen das Ihre Kollegen genauso?

Es gibt die unterschiedlichsten Meinungen. Aber in meinen jetzigen Kollegium überlegen wir alle zusammen, wie wir es hinkriegen, dass die Oberstufe nicht so klein wird. Das ist eine besondere Schülerschaft, die es über die zehnte Klasse hinaus schafft, wir haben fantastische Schülerinnen und Schüler. Dieses Grüppchen müssen wir vergrößern, das ist die Herausforderung der Schule. Wir brauchen sie später dringend als Erzieher, Polizisten und Sozialarbeiter.

Und was für Lehrer bräuchten die Schulen dafür?

Zunächst brauchen wir Lehrer mit Migrationshintergrund. Ich hatte bisher keinen einzigen nicht-deutschen Kollegen. Den Lehrerberuf will keiner mehr machen. Wenig Sozialreputation, viel Abrieb. Dieser Berufsstand hat ein blasses Image. Ich bin da soetwas wie eine Querulantin und Gott-sei-Dank kommen noch mehr hinzu. Es gibt viele Kollegen, die sich wahnsinnig reinhängen. Die meisten stehen hinter den Schülern und interessieren sich für ihr Weiterkommen. Aber die Schulen allein können die Probleme nicht lösen.

Sondern?

Auch die Ausbildung muss sich ändern. Das Fach Deutsch als Zweitsprache wird immer noch als Anhängsel betrachtet. Erst seit diesem Jahr ist es verpflichtender Bestandteil in der Ausbildung von Gymnasiallehrern, Fachinhalte so zu vermitteln, dass auch nicht-deutsche Schüler sie besser verstehen können. Wir brauchen auch dringend Informations- und Weiterbildungsangebote, damit Lehrer kulturelle Zusammenhänge und Familientraditionen verstehen.

Sehen Sie Anzeichen, dass die Schulen sich verstärkt für Kinder aus nicht-deutschen Elternhäusern öffnen?

Natürlich. Es gibt inzwischen Mediationsgruppen an fast jeder Schule, es gibt Patenschaften, die Schulen bemühen sich. Aber es gibt eben diesen irrsinnig straffen Zeitrahmen, in den Projekte kaum noch passen. Und gerade ab der zehnten Klasse wird es sehr eng.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN

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