berliner szenen Schmoren bei 80 Grad

Heilige Martinsgänse

Letzte Woche stolperte ich in eine St.-Martins-Aufführung. St. Martin wurde von einem blassen, bebrillten Jungen mit Asterix-Flügelhelm gegeben, den armen Mann spielte ein schwarzhaariger HipHopper. Als ich vorbeiging, sagte der Erzähler gerade: „Und da saß ein Bettler am Wegesrand.“ Der schwarzhaarige Junge nahm das Mikro und sagte: „Ey, isch hab überhaupt kein Geld. Und mir ist voll kalt, und isch hab voll Hunger.“ St. Martin nahm daraufhin seine rote Fleecedecke und zerteilte sie mit einem Plastikmesser.

Um mir den Fortgang der Geschichte mit den Martinsgänsen und dem Kloster zu sparen, schlenderte ich schnell weiter und dachte über Martinsgänse nach. Seit ich Mitglied in einer Internet-Koch-Community bin, bekomme ich dauernd Rezepte geschickt. Neulich kam eins, das hieß „Gefüllte Gans Niedrigtemperatur“, und man muss die Gans dabei sieben Stunden lang bei erträglichen 80° im Ofen lassen. Im Rezept stand: „Wir stellen die Gans immer abends rein, und wer als Erster aufsteht, macht den Ofen aus.“ Welch eine Organisation! Und welch ein Vertrauen in die Mitbewohner.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie eine Küche am Morgen duftet, in der sieben Stunden lang eine gefüllte Gans briet. Das machte mich so hungrig, dass ich um ein Haar zum Bullenimbiss um die Ecke gegangen wäre, der so heißt, weil die gesamte Polizei Kreuzbergs in ihren Demopausen hier Hähnchen isst. Aber man weiß ja, welcherlei Vögel in solchen Imbissen kremationiert werden: Unglückliche, Gefolterte, die auch schon vor der Zugvögelverordnung immer nur in Minilegebatterien darbten. Nein nein, ich will ein glückliches Tier, das durch den Bauern quasi aktive Sterbehilfe bekam. Ist bestimmt saftiger. JENNI ZYLKA