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Archiv-Artikel

Der Pfarrer ist der letzte Anker

Im Polizeigewahrsam Köpenick warten 140 Flüchtlinge auf ihre Abschiebung. Anders als im normalen Strafvollzug müssen sie für ihren Zwangsaufenthalt zahlen. Da bleibt kaum Geld für einen Anwalt

„Für Gerichte und die Ausländerbehörde sind die Menschen hier Verwaltungsakte“ Der Pfarrer ist letzter Anker im Gewahrsam, obwohl er nichts verändern kann

VON TATJANA SCHÜTZ

Am S-Bahnhof Grünau steigt Bernhard Fricke aus dem Zug und fährt mit seinem Fahrrad über holpriges Kopfsteinpflaster bis zur Tram-Haltestelle Rosenweg. Hier ragt ein sechsstöckiger Plattenbau aus dem gutbürgerlichen Kleingartenidyll. Bedrohlich liegt der graue Klotz zwischen den liebevoll gepflegten Schrebergärten, umgeben von einer vier Meter hohen, mit Stacheldraht gesicherten Mauer. Dahinter liegt Frickes Arbeitsplatz. Er atmet noch einmal tief durch: „Drinnen rauchen die Leute so viel, da schnapp ich vorher noch ein bisschen frische Luft.“

Das schwere Stahltor passiert Bernhard Fricke mühelos. Man kennt ihn inzwischen im „Polizeigewahrsam Köpenick“, wie das Abschiebegefängnis offiziell genannt wird.

Heute wartet Habib auf ihn. Der 35-jährige Tunesier aus Zelle Nummer 313 soll abgeschoben werden. „Der Seelsorger erfüllt im Gewahrsam eine sehr wichtige Funktion“, erklärt Kai Köhne von der Initiative gegen Abschiebehaft. „Er hilft den Flüchtlingen zum Beispiel bei der Formulierung von Klagen. Außerdem ist der Pfarrer für viele Menschen hier drinnen einfach eine Person, der sie sich anvertrauen können.“

In der Zelle sind auf sechzehn Quadratmetern außer Habib noch Mika aus Exjugoslawien, Erhan aus der Türkei und Hassan aus den kurdischen Gebieten untergebracht. Die Namen der Inhaftierten kennen die meisten der 200 Angestellten im Polizeigewahrsam nicht. Sie sprechen die Flüchtlinge mit den Haftbuchnummern an, die aus den Gerichtsbeschlüssen hervorgehen. „Für die Gerichte und die Ausländerbehörde sind die Menschen hier Verwaltungsakte“, sagt der Pfarrer.

In dem Raum stehen zwei weiße Etagenbetten, ein Tisch mit einem Fernseher und zwei Bänke. Alle Möbelstücke sind fest im Boden und an der Wand verankert. Schränke gibt es nicht. Die Flüchtlinge bekommen jeweils ein kleines Schließfach mit einem Vorhängeschloss, in dem sie ihre Wertgegenstände aufbewahren können. „Das macht überhaupt keinen Sinn“, beschwert sich Mika. „Wir dürfen weder Gürtel noch Feuerzeuge haben, weil wir uns angeblich verletzen könnten. Aber sie geben uns diese Schlösser, mit denen man jemandem den Schädel einschlagen kann. Sogar die Kameras werden uns aus den Handys gebrochen, wozu soll das gut sein?“ Dass die Vorsichtsmaßnahmen nutzlos sind, zeigte sich wieder einmal Anfang November: Ein 30-Jähriger versuchte sich das Leben zu nehmen, indem er Metallteile schluckte.

Erhan, Hassan und Habib starren auf den Fernseher, Mika klettert aus seinem Bett. Beschäftigungs- und Arbeitsangebote wie im Strafvollzug gibt es im Polizeigewahrsam kaum. Das Highlight des Tages ist der Hofgang in eingezäunten Basketballfeldern. Dort können sich die Häftlinge eineinhalb Stunden bewegen. Trübe Aussichten für eine durchschnittliche Haftdauer von 53 Tagen. In Einzelfällen beträgt sie auch 18 Monate. „Wenn die Leute hier reinkommen, wissen sie oft nicht, wie lange sie festgehalten werden. Diese Ungewissheit ist eine enorme psychische Belastung für die Häftlinge“, erklärt Köhne.

Ein Flüchtling aus der Zelle nebenan taucht im Türrahmen auf. „Ey, hast du mal Feuer“, fragt er den Pfarrer. Der lacht und schüttelt den Kopf. „Scheiße Mann“, flucht der junge Kurde und verschwindet wieder. Jetzt muss er einen der Beamten, die hinter dem Gitter am Ende des Flures Wache schieben, um Feuer bitten. Einige Häftlinge machen das mehr als zwanzigmal am Tag.

Fricke setzt sich an einen Tisch mit einer roten Wachsdecke, auf die jemand mit Kugelschreiber ein Schachbrett gemalt hat. „Kannst du mir bitte mal deine Papiere zeigen“, fragt er Habib. Der Tunesier reicht ihm einen Stapel. Ganz oben ein gelber Zettel: Der Bescheid des Richters mit seiner Haftbuchnummer und der Begründung für die Unterbringung im Polizeigewahrsam. Die Flüchtlinge haben oft den Grund für ihre Inhaftierung, der ihnen bei der Urteilsverkündung übersetzt wurde, längst vergessen. Die Möglichkeit zu klagen kennen die meisten nicht. „Für die Menschen hier ist der Gewahrsam Knast, egal wie die offizielle Bezeichnung lautet. Sie glauben, sie werden für etwas bestraft“, sagt Köhne.

Mühevoll erklärt Habib seine Situation: „Wenn ich zurück muss, fürchte ich um mein Leben. Man hat mich bedroht, als ich im tunesischen Konsulat Ausweispapiere beantragen wollte. Die arbeiten eng mit der tunesischen Regierung zusammen.“ Seine Angst ist begründet. Amnesty international erhält seit Jahren Berichte über Misshandlungen und Folter durch tunesische Sicherheitskräfte. Mehrfach hielt der Staatssicherheitsdienst Menschen, die nach Tunesien abgeschoben wurden, tagelang unbegründet fest. Auch in diesen Fällen wurde von Folter berichtet.

Fricke blättert in den Unterlagen und überlegt. „Sie könnten noch einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht stellen. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen dabei“, sagt er plötzlich sehr förmlich. Dann beginnt er zu schreiben. Das Beamtendeutsch geht ihm nicht leicht von der Hand, schließlich ist er kein Rechtsanwalt, sondern Pfarrer: „Ich kenne die Gesetzestexte nicht so genau. Aber ich kenne das Gesetz der Nächstenliebe, und das wird hier missachtet.“ Die meisten Häftlinge können sich keinen Anwalt leisten. Wenn sie Geld haben, müssen sie eine „Anzahlung“ für die Unterbringung im Polizeigewahrsam leisten. Die kostet sie 62 Euro am Tag. Um wenigstens ein Minimum an rechtlichen Standards zu garantieren, gibt es eine ehrenamtliche Rechtsberatung vom Republikanischen Anwälteverein. Köhne erklärt: „Wir fordern seit Jahren eine unabhängige und staatlich finanzierte Rechtsberatung im Abschiebegewahrsam.“

„An das Verwaltungsgericht Berlin“, liest Fricke während er schreibt. Dann stockt er: „Wie schreib’ ich denn so was?“ Mika ist inzwischen aufgestanden und reicht ihm ein Papier: „Vielleicht so, das hat bei mir funktioniert.“ Der 60-Jährige ist bereits seit sechs Monaten im Gewahrsam. Er lebt seit 1988 in Deutschland. Als er abgeschoben werden sollte, hatte er das Glück, mit Hilfe eines Anwaltes Klage einlegen zu können. Jetzt wartet Mika darauf, dass erneut über seinen Asylantrag entschieden wird.

„Das ist das Schöne hier, jeder hilft jedem“, sagt Fricke erleichtert und übernimmt einige der Formulierungen aus Mikas Widerspruchserklärung. Dann muss Habib noch unterschreiben: „Das faxe ich sofort raus. Wir können nur hoffen, dass die schnell reagieren“, sagt der Pfarrer und verabschiedet sich.

Das Faxgerät steht in seinem Büro. Auf dem Weg dorthin macht er einen Abstecher in das Erdgeschoss des Gebäudes, wo sich die Isolationszellen und der Andachtsraum befinden. Neonröhren hinter schmutzigen Plastikschalen tauchen den langen Flur in ein fahles Licht, rechts und links führen braune Stahltüren in die Einzelzellen. „Einige sind freiwillig hier, weil sie den Lärm in den Gemeinschaftszellen nicht aushalten. Andere werden unfreiwillig nach einem Fluchtversuch isoliert“, erklärt Fricke. Köhne von der Initiative gegen Abschiebehaft ergänzt: „Die Einzelhaft wurde verstärkt im Sommer eingesetzt, als sich die Flüchtlinge mit einem Hungerstreik für bessere Haftbedingungen einsetzten. Viele der Streikenden wurden isoliert.“

Am Ende des Ganges liegt die als Andachtsraum genutzte Zelle. Dort hält der Pfarrer alle zwei Wochen im Wechsel mit seinem katholischen Kollegen den Gottesdienst. Der PVC-Boden ist abgewetzt und hat Löcher, die Farbe blättert an einigen Stellen von den Wänden. Selbst die schwarzen Graffiti wirken verblichen. Drei Fenster sind mit einem weißen Gitter, das vom Fußboden bis zur Decke reicht, vom Innenraum abgetrennt. Die Gottesdienste werden auf Englisch gehalten und ins Arabische übersetzt.

Regelmäßig nehmen bis zu 40 Häftlinge daran teil, rund die Hälfte sind Muslime: „Unser gemeinsamer Nenner ist das Gebet, darauf können wir uns hier einigen. Die einen beten eben zu Allah, die anderen zu Gott“, sagt Fricke. Köhne meint dazu: „Die religiöse Komponente ist hier für viele enorm wichtig.

Der Pfarrer ist ein letzter Anker, auch wenn er die menschenverachtenden Bedingungen im Gewahrsam nicht verändern kann.“ Fricke macht sich auf den Weg in das Büro im zweiten Stock. Seine Schritte hallen im Treppenhaus. Es riecht dumpf nach Reinigungsmitteln. Auch im Büro des Pfarrers sind die Fenster vergittert, an der Wand über dem Schreibtisch hängt ein Kreuz, daneben eine Weltkarte.

Fricke hält Habibs Klage in der Hand. Er legt den Zettel ins Faxgerät ein, drückt auf „Senden“ und sagt: „Ich schreibe einen Widerspruch auch, wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass er etwas nützt. Ich vollziehe nur den Willen der Häftlinge.“ Dann muss er schon wieder weiter, im nächsten Trakt wartet ein Libanese auf ihn. Ein letzter Blick fällt auf die Karte an der Wand. Darauf steht in großen Druckbuchstaben: „Unsere Welt – eine Welt“. Damit es an der Schwelle zwischen den Welten niemand vergisst.