Nina Hoss erhält Bremer Filmpreis: Sie leiht sich den Figuren aus

Man weiß nie, was einen erwartet, wenn sie auf der Leinwand oder Bühne erscheint. Die Schauspielerin Nina Hoss hat am Donnerstag den Bremer Filmpreis erhalten. Die Laudatio.

Unterstützerin kleiner Filme, im Mainstream keine Fremde. Bild: dpa

Bei den Extremen, den beiden Polen der deutschen Filmindustrie, findet man sie. Sie ist im Autorenfilm der "Berliner Schule" und anderer kleiner Projekte wie Erica von Moellers "Hannah" oder Nicolette Krebitz' "Das Herz ist ein dunkler Wald" ebenso zu Hause wie in den mit ungleich höheren Budgets hergestellten, auf Bestsellern basierenden Filmen der Münchner Constantin Film. Sie hat Teil an den Versuchen, großes deutsches Unterhaltungskino wiederzubeleben, anspruchsvollen Mainstream hierzulande zu realisieren.

RAINER ROTHER ist Künstlerischer Direktor der in Berlin ansässigen Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen. Ein Buch von ihm über Nina Hoss wird im Februar im Henschel-Verlag erscheinen: "Nina Hoss. Ich muss mir jeden Satz glauben. Ein Porträt".

Und sie unterstützt die sogenannten kleinen Filme. "Ich will mich nicht vereinnahmen lassen, weder von der einen Seite, die Antimünchen, noch von der anderen Seite, die Antiberlin ist." Sie erschafft Figuren, keine Filmstile. "Ich bin immer fürs Ausprobieren. Nicolette Krebitz hatte da was vor, hatte eine Vision. Da bin ich sofort dabei." Schon für die Auswahl ihrer Rollen gilt, was sie in Bezug auf das Spielen selbst formulierte: "Sicherheit ist nie gut!"

Was macht Nina Hoss so ungemein faszinierend? Sie ist eine Schönheit, eine Attraktion, gewiss - ihre Figuren sind verführerisch, aber auch berührend, verstörend, beängstigend. Dazu kommt: Nina Hoss überzeugt ihr Publikum mit einer Präsenz, einer Spontaneität und auch, fast ein altmodisches Wort, mit einer Glaubwürdigkeit, die immer erneut frappiert. Ihr Spiel ist frei von Manierismus.

Mehr noch: Sie betrachtet sich als jemand, der immer wieder, bei jeder Rolle dazulernt. Mit Nina Hoss über ihre Rollen, das Erarbeiten einer Figur zu sprechen, aber auch über andere Schauspieler, über Filme und Inszenierungen, das ist zugleich die Erfahrung, einer Darstellerin gegenüberzusitzen, die ihr Metier liebt. Einer Künstlerin zu begegnen, die weiß: Schauspielen bedeutet, einer fremden Figur Gestalt geben - und bedeutet daher auch, dass die eigene Person nicht im Zentrum steht.

Gerade deswegen hat sie so viele Filme und Theaterinszenierungen durch ihre Darstellungen entscheidend geprägt. Ihre schon legendäre Präsenz besteht nicht in der Nachdrücklichkeit eines "Nina-Hoss-Typs", den sie in immer neuen Varianten vorführt. Diese Darstellerin dominiert ihre Figuren nicht, sie dient ihnen. Ihre Idee vom Schauspiel, ihre Idealvorstellung besteht darin, sich "der Figur ausleihen" zu können. Um das zu tun, muss sie sich diese Figuren erarbeiten. Was im Drehbuch steht, das ist ja nur ein Ausschnitt aus einer fiktiven Biografie. Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Sätzen, grundiert die Handlungen. Nina Hoss komplettiert ihre Vorstellung von der Figur. Sie entwirft, basierend auf Drehbuch oder Dramentext, eine Art Biografie, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht. Sie spricht von den "berühmten W-Fragen" - woher kommt die Figur, wo will sie hin, wer ist sie, wann spielt die Szene.

Nina Hoss betreibt Figurenkunde: Sie setzt bei jeder Rolle neu an, und je mehr sie sich diesen Gestalten nähert, je reicher ihr Wissen um sie wird, umso einfacher, umso selbstverständlicher wird ihr Spiel. "Je besser ich vorbereitet bin, desto weniger muss ich nachdenken, kann Dinge einfach geschehen lassen, weil sie so natürlich kommen. Danach suche ich eigentlich; ich suche nach einer Wahrheit im Spiel: dass ich nicht imitiere oder vorhabe, etwas zu erzählen, und das muss dann raus. Sondern, dass es wahrhaftig ist."

Was dann entsteht, ist ein Spiel, das scheinbar mühelos der Figur nicht nur Gestalt, sondern auch Hintergrund verleiht. "Selbst wenn man es nicht benennen könnte: Es passiert mehr, es ist vielschichtiger. Ich glaube, alles, was man von der Figur weiß, scheint durch. Selbst wenn es vom Zuschauer ganz anders wahrgenommen wird: Es ist noch eine Ebene darunter, es wird nicht nur einfach ein Satz vorgesprochen oder illustriert."

Der Theaterregisseur Michael Thalheimer hat es mit Bezug auf die Liebesszene von Faust und Helena in seiner Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin einmal so ausgedrückt: Nina Hoss "spielt da in ganz kurzer Zeit den Wechsel von Euphorie, Freude, Angst, Verwirrung, Verlust bis zu Verbitterung. Indem sie vier Meter rückwärts läuft, ist das alles da. Und für den Zuschauer ist es nicht nur wahrnehmbar, sondern erfahrbar, denn das ist nicht "gespielt" - das würden die Zuschauer spüren, und es würde sie zurecht verstimmen -, sondern es ist ungekünstelt. Fast beiläufig ist diese Darstellung, und deshalb ist sie so bezwingend."

Beiläufigkeit, diese Qualität ihres Spiels überzeugte Kritiker auch dann, wenn sie die Filme selbst nicht mochten. "Wäre da nicht Nina Hoss", das findet sich als Formulierung so oder ähnlich in vielen Kritiken. Diese Begeisterung über ihr Spiel, das über Vorbehalte hinwegträgt, tauchte zum ersten Mal bei "Das Mädchen Rosemarie" auf. Eine Seltenheit: Kritiker brauchen die Filme nicht schätzen, um ihre Darstellung zu lieben. Darin liegt natürlich, eine Ungerechtigkeit gegen die Ensembleleistung, gegen die Regie-Idee.

Nina Hoss begreift sich zutiefst als Mitglied eines Teams. Es ist ihr fremd, sich für wichtiger, ihre Darstellung für besser zu halten als die Grundidee des jeweiligen Projekts. Wenn man, wie sie es tut, Wagnisse eingeht, dann ohne Rückversicherung oder Distanz. Sie hält sich keinen Ausweg offen, flüchtet sich in keine Sicherheit, auch nicht in die, Erwartungen des Publikums zu erfüllen. Gerade deswegen ist sie in dem, was sie tut, in dem, was sie spielt, ganz dabei.

Ohnehin ist es auffällig, mit welcher Freude, mit welch unzweideutiger Wertschätzung sich ihre Regisseure über die Zusammenarbeit äußern. Christian Petzold lobt zum Beispiel ihre Kollegialität: "Es gibt nicht wirklich viele Schauspieler, die diese Professionalität und Loyalität haben, dass sie, wenn sie im Off sind, genauso gut sind wie im On. Es geht ja immer um den Film, darum, auch den Kollegen oder Partnern fantastische Arbeitsbedingungen zu schaffen." Bestimmte Momente der Dreharbeiten empfand er schlicht als ein Ereignis. Die Theaterregisseurin Barbara Frey drückt ihr Zutrauen in die Fähigkeiten von Nina Hoss mit freundschaftlichem Humor aus: "Was man ihr auch immer für einen Brocken hinwirft, sie nimmt ihn auf und fängt an, daran herumzufuttern. Sie hat diesen Killerinstinkt, die kann das."

Nina Hoss dagegen beschreibt ihren Beitrag ganz nüchtern: "Was ich mache, das sieht man doch". Das stimmt, aber vielleicht liegt das Besondere, das Einzigartige ihrer Kunst nicht so offen zutage. Die große Gabe der Nina Hoss ist es, das, was man sieht und hört, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in ihren Filmen, ihren Theaterrollen: Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind - eine Art Triumph des Schauspiels. Die Arten zu gehen, die Varianten des Lächelns oder des Lachens, die Gesten der Spontaneität, das sind Elemente des Spiels. Sie zu beherrschen, ist das eine, in ihnen, nicht mit ihnen zu spielen, das andere.

Nina Hoss ruft die Möglichkeiten ihrer Darstellungskunst nicht je nach Rolle und Aufgabe ab. Vielmehr könnte man sagen, sie findet zu diesem Gang, zu diesem Lächeln, zu dieser spontanen Geste in der Auseinandersetzung mit der Figur. Sie zeigt also nicht vor, was sie kann, sondern sie entdeckt, was sie zu zeigen vermag. Das gibt ihrem Spiel jene besondere Qualität, die bei ihrem Publikum Begeisterung auslöst und ihre Kritiker nachhaltig fasziniert. Zusammen mit der Darstellerin finden beide, die Zuschauer wie die Rezensenten, neue Möglichkeiten des Spiels. Es sind solche, die Nina Hoss für sich und in sich, mit dem Regisseur und für das Auditorium erkundet. Das Paradoxe an dieser Schauspielerin ist, dass man sie bewundert, ja liebt, weil man nicht weiß, was einen erwarten wird, wenn man einen Film, ein Theaterstück besucht, in dem sie mitspielt.

Sie ist fähig, uns zu überraschen, weil sie Klischees ebenso verabscheut wie Vereinfachungen. Gut oder böse, sympathisch oder unsympathisch, aktiv oder passiv, Getriebene oder Treibende, das wären solche Vereinfachungen. Doch Menschen sind nie nur ganz das eine, sind immer in Widersprüchen verstrickt, reiben sich an anderen und an den Umständen ihrer Existenz. Wie könnten Figuren dann wahrhaftig sein, wenn sie auf eine der Alternativen verpflichtet werden? Nina Hoss nimmt ihre Figuren an in ihren Widersprüchen, Unvollkommenheiten, auch in ihren fragwürdigen, unsympathischen, abstoßenden Seiten. Dann erst beginnt sie, ihnen Gestalt zu geben.

Ihre Vorstellung vom Schauspiel geht von der Möglichkeit aus, von der Figur überrascht zu werden - nicht davon, sie nach einem Muster zu formen. Sie sagt: "Ich möchte nicht so ein Handwerk vor mir herschieben. Professionell hieße dann: Wie möchtest du es, ich kann es so spielen, oder so? Ich finde das langweilig. Das Spannende an dem Beruf ist ja: Es bleibt ein permanentes Risiko." Wir folgen ihr gern in die Wagnisse des Spiels. Und erkennen darin die Macht der Darstellung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.