Aus dem proletarischen Multiversum

KRITISCHE PRÜFUNG Der Sammelband „Über Marx hinaus“ will das marxsche Bild über die Arbeiterklasse berichtigen

Das frühmoderne Subjekt der Revolte dient als Muster für das gesuchte spätmoderne

VON PATRICK EIDEN-OFFE

Wenn Forschungsanträge, Kunstbetrieb und Feuilleton im Gleichklang zu einer „Rückbesinnung auf Marx“ aufrufen, dann läufts wahrscheinlich im globalen Kapitalismus gerade eher nicht so gut. Es herrscht Krisenstimmung. Und wenn sich dann noch junge Menschen – so wie aktuell immer wieder berichtet – massenhaft in „Kapital“-Lesekreisen versammeln, dann werden die verschiedenen Gralshüter der reinen marxistischen Lehre(n) nicht weit sein, um das allgemeine Sicherheitsbedürfnis mit Dogmatismen dieser oder jener Art zu stillen. Um so bemerkenswerter und in der Ausrichtung geradezu antizyklisch nimmt sich daher der Versuch von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth – beide verdiente Old Boys der kritischen Marx-Diskussion – aus, nicht bloß zu Marx zurückzugehen, sondern in der politisch-theoretischen Debatte „Über Marx hinaus“ zu gelangen. Ihr so betitelter Sammelband bringt 18 Beiträge zusammen, die von den „heterodoxen Rändern des Marxismus“ her die aktuelle Tragweite der marxschen Theorien prüfen und zu einer „kritischen Theorie der Gegenwart“ beitragen wollen.

Verlängerte Niederlage

Den Fokus des Sammelbandes macht der Untertitel deutlich: „Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts“. Es geht um eine historisch gerahmte Perspektive auf die Gegenwart, und der doppelte Akzent auf der Arbeit muss dabei programmatisch verstanden werden. Denn ironischerweise – so eine zentrale These des Bandes – sei Marx’ zentraler Fehler nicht etwa eine Fixierung auf die Arbeit und die Arbeiterklasse gewesen, sondern umgekehrt gerade deren Vernachlässigung.

Marx habe zwar eine Theorie des Kapitals geschrieben, den Widerstand und die Autonomie der unterworfenen und ausgebeuteten Subjekte aber habe er konsequent ausgeblendet. Ja, in der systematischen Konzeption des marxschen Werks sei die proletarische Niederlage in der Revolution von 1848/49 theoretisch ratifiziert und verlängert worden, schreibt Ahlrich Meyer in seinem Beitrag. Wenn wir es schaffen, das von Marx zurechtgestutzte und disziplinierte Bild der Arbeiterklasse zu berichtigen, dann können wir vielleicht auch einen neuen Blick auf die revolutionäre Subjektivität heute, in unserer Gegenwart erwarten – so lautet das Versprechen, das den Band trägt.

Ursprünglich akkumuliert

„Über Marx hinaus“ geht deshalb zunächst einmal einen historisch-theoretischen Schritt hinter Marx zurück; rekonstruiert werden soll die „ursprüngliche Akkumulation des Proletariats“ als autonomes Subjekt, jenseits aller ethnischen, geschlechtlichen und nationalen Spaltungen, die diesem Subjekt dann widerfahren, schreiben Peter Linebaugh, Marcus Rediker und Peter Way. Das in sich vielfach gebrochene frühmoderne Subjekt der Revolte dient dabei als Muster für das gesuchte spätmoderne Subjekt der Revolte.

In ihrem Nachwort entwerfen die Herausgeber ein „proletarisches Multiversum“, das sich in der Untersuchung der globalen Arbeits-, Migrations- und Subjektivierungsregime konfiguriert. Zur Konturierung des Multiversums zieht der Band neben Beiträgen aus der Globalgeschichte auch Untersuchungen aktueller „postfordistischer“ Anstellungs- und Verwertungsformen heran (Sergio Bologna und Detlev Hartmann); der viel diskutierte „postoperaistische“ Ansatz wird in der bis dato vielleicht konzisesten Form vorgestellt (Carlo Vercellone, in enger Abstimmung mit Antonio Negri). Systematisch berücksichtigt wird schließlich die feministische Kritik an der Produktionszentriertheit auch des „heterodoxen“ Marxismus. Silvia Federicis treffend betitelte „Anmerkungen über Altenpflegearbeit und die Grenzen des Marxismus“ entwerfen einen erweiterten Begriff von Reproduktion, der im revolutionären „proletarischen Multiversum“ der Gegenwart zu berücksichtigen bleibt.

Nicht alle Beiträge des Bandes halten das vorgegebene Reflektions- und (Selbst)Kritikniveau, und auch das resümierende Nachwort der Herausgeber bleibt fast notwendig hinter der abgebildeten Debatte zurück. Wenn hier plötzlich „klare“ Definitionen darüber aus dem Hut gezaubert werden, wer zu den Ausgebeuteten gehört und wer nicht, oder aber Verfügungen darüber, dass „militärische Arbeit“ bloß „negative Arbeit“ sei, weil deren Produkt keinen „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ besitze, dann zeigt sich, dass jeder noch so weit ausholende Versuch einer kritischen Revision der marxschen Theorie immer wieder in die Untiefen eines definitorischen Marxismus zurückfallen kann. Die Qualität und Dringlichkeit der in dem Band vorgestellten Debatte wird dadurch in keiner Weise in Frage gestellt. Jede Rückbesinnung auf Marx wird sich – den lauernden neodogmatischen Versuchungen zum Trotz – in Zukunft mit der Aufgabe konfrontiert sehen, über Marx hinauszugehen.

Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth (Hg.): „Über Marx hinaus“. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2009. 608 S., 29,80 Euro