Jazz-Anthologie: Lied vom blauen Ludwig

"Der Jazz in Deutschland" heißt eine ambitionierte Anthologie der Plattenfirma Bear Family. Zwölf CDs erzählen die Geschichte des wirkmächtigen Genres.

Ausflippen in Deutschland: Eric Concertos Yankee-Jazzband machts vor. Bild: Promo

Für fast jedes Land der Welt ließe sich eine spezifische Geschichte des Jazz schreiben. Eine Erzählung darüber, wie Jazz, die neben Rock n Roll wirkmächtigste Musik des 20. Jahrhunderts, sich von den USA ausgehend ausbreitete und dabei je eigene, neue Formen entwickelte.

In Deutschland musste der Jazz aufgrund der wechselhaften Landesgeschichte ganz besondere Pirouetten schlagen. Diese nachzuvollziehen, hat sich die ambitionierte Anthologie "Der Jazz in Deutschland" zur Aufgabe gemacht. Unter der Regie der Jazzhistoriker Horst J. P. Bergmeier und Rainer E. Lotz hat das Liebhaber-Label Bear Family zwölf CDs mit Musik und ausführlichen Linernotes zusammengestellt. "Jazz in Deutschland" versucht, die Entfaltung einer eigenen Jazztradition, die sich stets mit der im Mutterland des Jazz spiegelte, im Land von Bach und Beethoven, Blaskapellen und Marschmusik, nachzuzeichnen. Was Deutschland aus dem Jazz gemacht hat, wird dabei ebenso erörtert, wie der Frage nachgegangen wird, was der Jazz denn aus diesem Land gemacht hat.

Enthalten sind hunderte Songs. Stilistisch geht es da vom Cake Walk zum Ragtime, vom Jazz unterm Hakenkreuz zum Swing der Wirtschaftswunder-Jahre, vom Be Bop zum Free Jazz. Alle Subgenres, wie sie heute in der stilistisch völlig ausgefransten bundesdeutschen Jazzlandschaft gepflegt werden, werden bedient. Chronologisch wird ein Jahrhundert deutsche Jazzgeschichte durchpflügt, aber auch thematisch sortiert nach Eckpfeilern wie "Trümmerjazz" oder "Jazz in der DDR". Wobei Til Brönner, Götz Alsmann und andere Stars fehlen. Bear Family ist bekannt dafür, lieber an den Rändern zu stöbern, und so kommen Musiker wie Wolfgang Haffner oder Norbert Stein zum Zuge, die nicht berühmt genug sind, um in die Fernsehshow "Wetten dass..?" als Stargäste eingeladen zu werden.

Entscheidend zur Entwicklung des Jazz, die vor allem bis 1930 rasant vonstatten ging, haben afroamerikanische Musiker wie Buddy Bolden, Joe "King" Oliver und Louis Armstrong beigetragen. Von New Orleans wandert der Jazz weiter über Kansas City nach Chicago und New York. Orchestertraditionen aus der Alten Welt hatte man übernommen, auch bestimmte, in Afrika wurzelnde Rhythmen. Aber Jazz als kultureller Ausdruck ist etwas genuin Amerikanisches.

Jazz drückt ein neues Lebensgefühl aus, das nach dem Ersten Weltkrieg zumindest bei der Jugend in Europa sehnlichst erwünscht war. In Deutschland zog der Jazz zu Beginn der Zwanzigerjahre ein. Tanzorchester spielten die Goldenen Zwanzigerjahre herbei. Gegner diffamierten die neue Musik als "Niggerjazz" und "Kulturbolschewismus". Aber die Ausbreitung von Massenkultur und damit auch der Siegeszug des Jazz waren vorerst nicht mehr aufzuhalten. Um 1925, so zählt der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase in seiner Studie "Grenzenloses Vergnügen", existierten 30.000 Tanzkapellen in Deutschland: schlechte Vorstadtcombos genauso wie internationale Jazzorchester, die in exklusiven Hotels auftraten. Auch in den USA war die Entwicklung des Jazz nie die rein afroamerikanische Angelegenheit, zu der sie Neotraditionalisten um den Trompeter Wynton Marsalis heute drehen: Von den New Orleans Rhythm Kings bis zum Cool Jazz gibt es unzählige weiße Jazzmusiker. Dennoch sind Blues- und Gospeltradition, geprägt von den brutalen Erfahrungen der Sklaverei, Grundelemente des amerikanischen Jazz. Das, was etwa das Orchester Ben Berlin oder das Jazz Orchester Carlo Minari in Deutschland aufspielten, war nicht die Musik, die man heute "heiß" nennen würde. Es war geglättetes und gefälliges Surrogat. Trotzdem empfanden Deutschnationale diese Musik noch als unerhörte Form der "Amerikanisierung" deutscher Kultur.

Durch die Machtübernahme der Nazis verschärfte sich der Kulturkampf gegen die "entartete Musik" noch einmal, wobei die Herausgeber von "Jazz in Deutschland" mit dem weitverbreiteten Irrtum aufräumen, Jazz wäre erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg als Soundtrack der Befreiung nach Deutschland zurückgekehrt: "Zu keiner Zeit gab es in Nazi-Deutschland ein allgemeines Jazzverbot." Dieses Verbot durchzusetzen, scheiterte schon an Definitionsfragen. Gute Laune und Tanzvergnügen wollte man den Deutschen auch während des Zweiten Weltkrieges nicht verwehren, nur der "Niggerjazz" sollte nicht mehr gespielt werden, auch nicht von den Rundfunkanstalten. Nur, was war "Niggerjazz" und was genehme "deutsche" Tanzmusik?

Mal wurde der "mäßige Gebrauch von Synkopen" verlangt, dann ein "anständig geblasenes Saxophon", dann wiederum sollte das Saxophon als das Jazzinstrument schlechthin ganz aus den Orchestern eliminiert werden. Selbst in der Diktatur der Nazis überlebte der Jazz. Der englische Kulturkritiker Jon Savage bewertet ihn in seiner Studie "Teenage" sogar als Sound des Widerstands durch die sogenannte Swing-Jugend. Entwickelt wurden kreative Strategien, um weiter Jazz spielen zu dürfen. So nannte man etwa Stücke wie den "St. Louis Blues" einfach in das "Lied vom blauen Ludwig" um und schon klang die "Negermusik" ein Stückchen deutscher. Erst kurz vor Kriegsende, als öffentliches Vergnügen vollkommen verboten wurde, erklang in Deutschland keine Tanzmusik mit Synkopen mehr.

Nach 1945 wurde Swing in Deutschland zum Synonym für Jazz. Die großen Stars mit ihren Orchestern aus Übersee kamen auf Tournee, Duke Ellington genauso wie Louis Armstrong; die weiterhin rasant voranschreitende Entwicklung des Jazz in den USA wurde dagegen verschlafen. Dixie-Revivalbands mit Namen wie Dixie Maximators oder Dixieland All-Stars Berlin bliesen in den Fünfzigern zum Wirtschaftswunder. Dieses Frohsinnsgedudel fegte den Staub von tausend Jahren nicht gerade von den Talaren. Dann kam der Bebop. Doch anders als in Frankreich, wo der neue wilde Sound begeistert begrüßt wurde, hörte man hierzulande lieber konservativ. Richtig befreiend wurde es dafür ab Mitte der Sechziger. Free Jazz, so konstatierte der deutsche "Jazzpapst" Joachim-Ernst Behrendt, liberalisierte den europäischen Jazz, gab ihm eine eigene Identität. Die Loslösung von swingenden Rhythmen im freien Jazz schien auch Musikern in Deutschland ihren Komplex zu nehmen, als Weiße den Jazz einfach doch nicht so richtig fühlen zu können. Im Free Jazz galt, ähnlich ein paar Jahre später im Punk, das Prinzip der Selbstermächtigung: Sei einfach kreativ und möglichst unkonventionell.

In Wuppertal etwa wurde die "Kaputtspielphase" eingeläutet: Peter Brötzmann blies ein Saxophon, als würde er ein Maschinengewehr abfeuern. Das hatte zwar nicht den Soul eines Albert Ayler, dafür war es radikal und entsprach ganz dem Ruf der Achtundsechziger nach totaler gesellschaftlicher und künstlerischer Neuerung. Europäischer und auch deutscher Jazz waren plötzlich innovativer als der Sound in den USA. Musiker wie Albert Mangelsdorff oder Peter Kowald wurden international gefeiert und mit MPS im beschaulichen Donaueschingen, sowie ECM und Enja in München wurden bedeutende Jazzlabels gegründet, auf denen amerikanische Superstars wie etwa die Pianisten Keith Jarrett oder Oscar Peterson ein paar ihrer wichtigsten Platten veröffentlichten. In Berlin kümmerte sich FMP um europäischen, zunehmend aber auch amerikanischen Freejazz. Diese kreative Hochphase des deutschen Jazz hätte man in der "Jazz in Deutschland"-Box, die sich ein wenig zu sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufhält, gerne etwas ausführlicher dokumentiert bekommen. Schließlich beginnt hier erst wirklich der musikalisch wichtige Teil der Anthologie. Alle Namen, auch die der vitalen Freejazz-Szene in der DDR, tauchen freilich auf, etwa Atilla Zoller, Gunter Hampel und Ernst-Ludwig Petrowsky. Aber zu schnell wird jetzt weiter gehastet, um den Jazzrock zu begrüßen, der in den Siebzigern auch in Deutschland von großer Bedeutung war, hier aber kaum etwas von Bedeutung hervorbrachte.

Der Eindruck, dass wir zwar im Land der großen Jazzfestivals leben, Jazz aber wieder eine Nischenkultur ist, unfähig zur Selbsterneuerung, wird jedenfalls nicht zerstreut. Anders als etwa in Norwegen, wo Jazzmusiker ganz anders gefördert werden als hierzulande, wo der Jazz aber auch viel stärker dekonstruiert wird, scheinen innovative Impulse nicht mehr aus Jazz-Deutschland zu kommen.

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