: Die Tür fällt ins Schloss
Was passiert am Rand der Gesellschaft, dort wo Armut und Arbeitslosigkeit Alltag sind? Die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne erzählen von Figuren, denen keine Hoffnung bleibt – so auch in ihrem neuen, herausragenden Film „L’enfant“
von CRISTINA NORD
Eine Ausfallstraße zerschneidet das Bild. Autos schießen von links nach rechts, von rechts nach links. Sonia will auf die andere Seite, aber keine Lücke tut sich auf. Das Geräusch der Wagen ist wie eine Drohung: Versuch es erst gar nicht, hier bremst niemand. Nur für Autos gedacht sind diese Gegenden am Stadtrand. Drei Spuren rechts, drei Spuren links, dazwischen ein schmaler Streifen Gras, in der Ferne eine Fußgängerbrücke. Einen Bürgersteig gibt es nicht, weil es keine Bürger mehr gibt. Sondern nur noch Drop-outs wie Bruno und Sonia.
Bruno (Jérémie Rénier) und Sonia (Déborah François) sind die Hauptfiguren in „L'enfant“ („Das Kind“), dem neuen Film der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Sie sind kaum volljährig, aber eben Eltern geworden. Bruno hält sich als Kleinganove über Wasser; er trägt einen kecken Hut, eine neue Lederjacke und sagt: „Arbeiten ist was für Arschlöcher.“ Sonia prallt schon in der ersten Szene des Filmes von der Tür zu ihrer eigenen Wohnung ab. Denn während sie im Krankenhaus Jimmy zur Welt brachte, hat Bruno die Wohnung untervermietet, und jetzt öffnet sich die Tür jeweils nur einen Spalt, um dann mit umso größerer Wucht vor Sonias Nase zuzuschlagen. Gleich die erste Szene markiert mithin ein Schlüsselmotiv im Oeuvre der Dardennes: Um Zugang ringt die Figur; doch er bleibt ihr verwehrt.
Auf der Suche nach Bruno eilt Sonia zum Versteck am Fluss, das Kind als hellblau verpacktes Bündel auf dem Arm. Aber auch hier ist er nicht. Um zurück in die Stadt zu kommen, muss sie die Ausfallstraße überqueren. Ihre rastlosen Bewegungen fängt Alain Marcoen, der Kameramann, von hinten ein, in langen, ungeschnittenen Szenen. Den Rücken, den Nacken und den Hinterkopf eines Menschen in Bewegung aufzunehmen, ist die Signatur von Marcoen, der seit 1987 mit den Dardennes zusammenarbeitet und fast alle ihre Spielfilme fotografiert hat. Seine nervöse Kameraführung unterstreicht die Ruhelosigkeit der Figuren, ihr Gehetzt- und Getriebensein.
Als Sonia Bruno endlich findet, steht er am Rand einer Straßenkreuzung. Sie möchte, dass er das Kind auf den Arm nimmt. Doch halb stellt sich Bruno ungeschickt an, halb verweigert er Teilnahme und Vaterglück. Noch bevor er seine Hand unter den Kopf des Säuglings schiebt, klingelt sein Mobiltelefon. Er muss los, auf die andere Seite der Straße; ein neuer Deal wartet auf ihn. Bruno kann alles, was er anrührt, zu Geld verwandeln. „Ich komme immer zu Geld, nicht nötig, es aufzuheben“, sagt er, bevor er Sonia die Jacke kauft, die auch er trägt. Immer wieder zählt er Geld, immer wieder wandern Scheine aus seinen Händen in die Hände anderer, wechselt das Diebesgut den Besitzer. 400 Euro für die DV-Kamera bietet die Hehlerin, 500 will Bruno, sie einigen sich bei 450 – „mit dem Hut“, verlangt die Frau.
Nie bleibt ein Gegenstand – oder ein Schein – lange bei ihm. Das Geld für die Kamera investiert er in ein Cabrio; er mietet es für einen Tag, um Sonia zu beeindrucken. Dumm, denkt die kleinbürgerliche Vernunft, sollte er doch besser Windeln kaufen. Aber ebendiese Logik muss Bruno fremd sein. Warum sollte er sich von den Verheißungen der Warenwelt nicht gefangen nehmen lassen? Nur, weil er keine Arbeit und keine Wohnung hat? Auf etwas zu verzichten, mochte früheren Generationen gelingen, weil die nicht mit der Allgegenwärtigkeit von Konsumversprechen groß wurden. Für jemanden wie Bruno ist Verzicht so wenig eine Option wie für die jungen Männer in den französischen Banlieues die Einrichtung von Bausparverträgen.
Außerdem verkehren sich die Verhältnisse, sobald Bruno und Sonia im Cabrio sitzen. Wer eben noch am Rand der Ausfallstraße warten musste, um auf die andere Seite zu gelangen, zerschneidet jetzt selbst machtvoll die Landschaft. Die Ausgelassenheit, mit der die beiden den Tag feiern, mit der sie im Auto Walzer hören, sich in die Hände beißen oder auf einem Parkplatz herumtollen, ist ein Indiz dafür, dass die Brüder Dardenne nichts davon halten, die Figuren unter das Joch allumfassenden Unglücks zu zwängen. „L'enfant“ sperrt seine Protagonisten nicht in ihrem Elend ein, er lässt ihnen die kleinen Fluchten.
Das ist außergewöhnlich im gegenwärtigen Kino. Denn wer sich randständiger Figuren annimmt – was ohnehin nicht viele Regisseure tun –, legt dabei bisweilen eine fast sadistischen Lust an den Tag, diesen Figuren jeden Ausweg zu nehmen. „All or Nothing“ (2002) von Mike Leigh ist ein Beispiel für diese Tendenz. So wie der Doktor in Büchners „Woyzeck“ prüft, wie lange sich Woyzeck von Erbsen ernähren kann, so studiert Leigh, wie seine Figuren reagieren, wenn er ihnen immer neues Leid aufbürdet. Wie viel Unglück lässt sich ihnen in die Gesichtszüge spritzen, bis die Falten, der stumpfe Blick und der gesenkte Kopf übertrieben wirken?
Einen anderen Zugang wählt Ken Loach, indem er seinen Filmen die Hoffnung des gemeinsamen Kampfes mitgibt. Bei ihm existiert ein Kollektiv, das das Versprechen birgt, die Trostlosigkeit des Einzelnen ließe sich auffangen – ob dies dann glückt oder nicht, ist eine andere Frage. Loach lässt den Deklassierten einen Rettungsanker: das Klassenbewusstsein. Das aufzubringen, sind die Figuren der Dardennes nicht mehr imstande. Denn dort, wo die Filme spielen, in den südbelgischen Industriestädten, ist die Industrie abhanden gekommen, sind die Arbeit und mit ihr die Klasse der Arbeiter nur mehr eine ferne Erinnerung.
Bevor die Dardennes anfingen, Spielfilme zu drehen, hatten sie viel Erfahrung als Dokumentarfilmer gesammelt. Das muss ihren Blick auf eine Weise geschärft haben, dass sie prekäre Lebenssituationen in Szene setzen, ohne dabei der Sozialromantik zu verfallen oder Thesenkino zu machen. Damit stellen sie sich auf wohltuende Weise einer Tendenz in der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft entgegen, die Armut nicht wahrhaben will. Je mehr Leute verarmen, umso häufiger wird die Rhetorik von der Verantwortung des Einzelnen bemüht, umso lauter ist die Rede von Sozialschmarotzern. Dass es zur Strukturlogik des Neoliberalismus gehört, wenn ein bestimmter Teil der Gesellschaft aussortiert wird, gerät dabei aus dem Blick. Den Dardennes gebührt das Verdienst, Bilder genau hierfür zu finden.
In „Rosetta“ (1999) – wie „L’enfant“ in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet – sucht die titelgebende Protagonistin verzweifelt nach einem Job, um der alkoholisierten Mutter zu entkommen und den Wohnwagen wie den Hunger gegen minimal geordnete Verhältnisse einzutauschen. In „La promesse“ („Das Versprechen“, 1996) sind es Migranten aus Afrika, die ohne Papiere auf Baustellen arbeiten – unter so miserablen Bedingungen, dass leicht ein Unfall geschieht. In „Le fils“ („Der Sohn“, 2002) ist es ein Schreiner, dessen Sohn ermordet wurde. Ausgerechnet den jugendlichen Mörder des eigenen Kindes nimmt er als Lehrling in seine Werkstatt auf. So mischt sich in den entschlackten Realismus der Dardennes etwas, was das Zeug zum Tragödienstoff hat.
Auch in „L’enfant“ ist das so, da Brunos Geschick, alles zu Geld zu machen, vor der eigenen Familie nicht Halt macht. Bruno ist nicht nur Drop-out, er ist auch eine Figur, in der die Rhetorik von der Eigenverantwortung zur Kenntlichkeit entstellt wird, insofern diese Rhetorik wie von einem Zerrspiegel als böse Fratze zurückgeworfen wird. Solange alles gut geht, funktioniert Bruno, der kleine Ganove, wie eine Ich-AG: schnell, flexibel, geschäftstüchtig. Nur dass er seine Dienste eben nicht in der Legalität, sondern in der Illegalität anbietet. Kaum auszuhalten sind die Sequenzen, in denen er sein Kind eintauscht, als sei es eine Ware wie die DV-Kamera. Der Mutter sagt er: „Wir können doch noch eins machen.“ Düsterer kann der Kommentar, dass Neoliberalismus nicht gut für die Familie ist, nicht ausfallen.
„L’enfant“, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne. Mit Jérémie Rénier, Déborah François u. a., Frankreich/Belgien 2005,100 Min.