piwik no script img

Archiv-Artikel

Nur zwei Verfahren in sechs Jahren

AUFWAND UND NUTZEN Teure Anwälte, Schuldner ohne Geld: Warum es sich für ein Verkehrsunternehmen wie die BVG nicht lohnt, Schwarzfahrer zu verklagen

„Beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg gab es in den letzten sechs Jahren nur zwei Klagen von Infoscore“

GERICHTSSPRECHER ULRICH WIMMER

Die BVG hat zwei juristische Waffen, die sie einsetzen kann, wenn sie Schwarzfahrer erwischt: das Zivilrecht und das Strafrecht. Bei Ersterem geht es darum, dass das Unternehmen als Schuldner bekommt, was ihm zusteht – das „erhöhte Beförderungsentgelt“ von 40 Euro.

Gut 490.000 Mal haben die Kontrolleure im Jahr 2011 Fahrgäste ohne Fahrschein erwischt. Die meisten zahlen umgehend, manche aber weigern sich hartnäckig. Um bei ihnen die Forderung einzutreiben, müsste das von BVG und S-Bahn beauftragte Inkassounternehmen Infoscore irgendwann Klage erheben. Das passiert aber so gut wie nie, wie eine Stichprobe bei einem der elf Berliner Amtsgerichte zeigt: „Beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg gab es in den letzten sechs Jahren genau zwei Klagen von Infoscore“, sagt Ulrich Wimmer, Sprecher der Berliner Zivilgerichte.

Der Grund ist einfach: „Forderungen unter 150 Euro kann man nicht wirtschaftlich eintreiben“, erklärt Frank-Michael Goebel, Richter am Koblenzer Oberlandesgericht und Kostenrechtsexperte. Erstens muss der Kläger 75 Euro Gerichtsgebühren zahlen, um den Prozess zu führen. Zweitens fallen die Kosten für den Anwalt an, der beim Gerichtstermin auftritt. Und wenn der Kläger den Prozess gewinnt, hat er immer noch kein Geld – dann muss er drittens den Gerichtsvollzieher beauftragen, der noch einmal etwa 50 bis 80 Euro will.

Rein juristisch sind verurteilte Schwarzfahrer verpflichtet, diese Kosten zu zahlen. Nur: Bei vielen ist nichts zu holen, dafür sorgen die Pfändungsgrenzen. Ein Alleinstehender darf im Monat 1.030 Euro behalten. Nur das Einkommen darüber wird gepfändet. Sprich: Bei Hartz-IV-Beziehern und vielen Geringverdienern geht der Kläger leer aus.

Ein weiteres Problem der BVG: Ihr fehlt es an Druckmitteln. „Stellen Sie sich vor, Sie haben Schulden, bekommen Mahnungen und Inkassobriefe, aber Ihr Geld reicht nicht“, erläutert Richter Goebel. „Welche Rechnungen würden Sie zuerst bezahlen?“ Die Erfahrung zeige, dass Energie und Kommunikation höchste Priorität haben. Goebel: „Wenn der Strom abgeschaltet oder die Handynummer deaktiviert wird, spürt man das direkt.“ Deshalb zahlen die meisten Schuldner, sobald sie wieder Geld haben – auch ohne Mahnverfahren.

Forderungen der BVG haben dagegen keine Priorität. Denn Schwarzfahrer können weiter mit der U-Bahn fahren, sie bekommen kein Hausverbot. Die Rechnungen werden auf die lange Bank geschoben und zuletzt bezahlt – oder nie.

Finanziell steht die BVG also besser da, wenn sie die zivilrechtliche Waffe stecken lässt und ihre Forderungen nicht einklagt. Stattdessen schreibt sie diese ab, was sich wie ein Verlust auf die Bilanz auswirkt. Wie hoch die Abschreibungen sind, behält die BVG für sich: „Firmeninterna“, sagt Petra Reetz von der Pressestelle. Auf jeden Fall springen die zahlenden Kunden ein, die 548 Millionen Euro im Jahr 2011 hingeblättert haben. Und die Steuerzahler, die 258 Millionen zugeschossen haben.

Die BVG kann Anzeige erstatten – sie muss nicht

Die zweite juristische Waffe, die die BVG ziehen kann, ist das Strafrecht. Denn Schwarzfahren gilt als Leistungserschleichung und ist eine Straftat. Wenn die BVG einen Schwarzfahrer erwischt, kann sie also Anzeige erstatten – sie muss aber nicht. Und im Strafrecht geht es auch nicht darum, den Anspruch der BVG auf ihre 40 Euro durchzusetzen, sondern um die staatliche Strafe für die Tat. Die Verfahren laufen völlig unabhängig voneinander.

Für Schwarzfahrer sieht das Strafrecht bis zu einem Jahr Haft vor oder eine Geldstrafe. Letztere fließt freilich an den Staat. Und Haft gibt es nur für notorische Wiederholungstäter – oder als „Ersatzfreiheitsstrafe“ für Menschen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen können. Wer etwa eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen – also einem Monatsnettoeinkommen – nicht zahlt, muss stattdessen 30 Tage hinter Gitter. Zum Stichtag 27. Juli 2012 saßen in Berlins Knästen 275 Menschen wegen Leistungserschleichung, 172 von ihnen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt hatten.

Für die BVG ist das Strafverfahren kostenlos. Sie zeigt aber nicht jeden Schwarzfahrer an, sondern laut Pressestelle nur Fahrgäste, die „innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren dreimal ohne gültigen Fahrausweis angetroffen“ wurden. Wer seltener erwischt wird, muss also keine Konsequenzen fürchten – weder auf dem zivilrechtlichen noch auf dem strafrechtlichem Weg. SEBASTIAN HEISER