Die Hölle, das sind wir

WAHLFREIHEIT Felicitas Brucker inszeniert am Maxi Gorki Theater Sartres Existenzialismusklassiker „Geschlossene Gesellschaft“

„Die Hölle, das sind die andern.“ Sartre sagt, man habe diesen zentralen Satz seines Stückes oft falsch verstanden. Zur Hölle würden uns die anderen nur, wenn unsere Beziehungen zu ihnen „verquer, vertrackt“ seien und wir „zu sehr vom Urteil anderer“ abhingen. Auf die drei Menschen in seinem 1944 uraufgeführten Drama „Geschlossene Gesellschaft“, die nach ihrem Tod auf ewig in einem Zimmer zusammen gesperrt sind, trifft dies allerdings zu: Sie suchen Bestätigung im Blick der anderen, blicken selbst gnadenlos aufs Gegenüber und werden sich so gegenseitig zu Folterknechten.

Garcin, Herausgeber einer pazifistischen Zeitung, wollte immer ein Held sein, floh aber, als es brenzlig wurde – und will von seinen Zimmergenossinnen nun wissen, ob er wirklich der „Feigling“ ist, für den man ihn hält. Inès hat ihrem Vetter die Frau abspenstig gemacht, woraufhin der sich vor eine Straßenbahn wirft – sie hält sich für abgrundtief böse. Und Estelle war mit einem reichen, alten Mann verheiratet und hat ihr Kind ertränkt – sie kann es im Jenseits weder ohne Spiegel noch ohne ihr entgegengebrachtes Begehren aushalten. Felicitas Brucker inszeniert den Existenzialismusklassiker am Maxim Gorki Theater verhältnismäßig schnörkellos und schulklassenkompatibel vom Blatt. Dabei streicht sie Sartres Empire-Möbel-Zeitkolorit und setzt Robert Kuchenbuch, Anja Schneider und Ninja Stangenberg in eine weiße Box mit weißen Schaukelbrettern an weißem Gestänge.

In ihrem 60er-Jahre-Outfit sehen Garcin und Inès beinahe wie Wiedergänger von Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in Godards Film „Außer Atem“ von 1960 aus – damals war Sartre ja schwer in Mode. Die neu ans Gorki kommende Ninja Stangenberg (Jahrgang 1983) übernahm den Part der Estelle übrigens nur zehn Tage vor der Premiere von der erkrankten Julischka Eichel. An die papierne Rückwand werden immer wieder Schuldbewusstseins- und Einsamkeitsvideobilder geworfen. Und Johann Jürgens spielt, als höllischer Betreuer, zwischendurch mit Raustimme zur E-Gitarre Rimbaud-Texte ein, deren Poète-maudit-Flair jedoch ziemlich widerstandslos vorbeirauscht. Sonst hält sich Brucker mit Deutungsakzenten oder Konkretisierungen zurück und versucht stattdessen, ihre Schauspieler auf Figuren-Psycho-Kampf einzuschwören. Neben dem druckvoll zwischen Wand und Stangen wankendem Garcin Kuchenbuchs und Stangenbergs tiefäugig biegsamer Estelle besticht besonders Anja Schneider, die ihre Inès immer wieder überraschend interpretiert, ihr anfangs ungewöhnlich viel Unsicherheit, dann auch provokante Albernheiten und Witz erlaubt.

Obwohl Sartre der Regisseurin mehr Identifikations- als Reibungsfläche ist, gelingt Brucker eher leichte Dialogschlagfertigkeit als existenzialistische Schwere. Einmal schlägt Garcin seinen Mitgefangenen vor, sich zu solidarisieren statt sich weiter zu tyrannisieren: „Keiner von uns kann sich allein retten; entweder gehen wir zusammen zugrunde oder wir ziehen uns zusammen aus der Affäre.“ Und Brucker macht dies zu ihrem Hoffnungs- und Appellmoment, indem sie Kuchenbuch an der Außenwand der Bühnenbox aufs Dach klettern lässt. Von hier oben aus unterbreitet er den Gespielinnen die Solidar-Alternative. „Wir haben die Wahl“, sagt er –und so lautet auch Bruckers Botschaft. In diesem Sinn darf dann auch ein Loch in die Papierrückwand geschlagen werden und jeder probeweise nach draußen taumeln. Aber alle kehren freiwillig in die Zelle zurück. Wer will, kann die gut zweistündige Veranstaltung somit als sanfte Ermahnung zu Verantwortung und Eigeninitiative lesen, wie sie uns heute bisweilen fehlen. Die Hölle, das sind wir. ANNE PETER