In Zukunft mit Schere im Kopf
Darf man Manfred Stolpe als Stasi-Mitarbeiter bezeichnen? Der BGH hatte es erlaubt, das Verfassungsgericht hat diese Erlaubnis nun widerrufen. Und nicht nur das: Die Karlsruher Stolpe-Entscheidung könnte das Presserecht revolutionieren
VON JONY EISENBERG
Es ist das tägliche Brot der Redaktionen: Sie berichten über Skandale und Verirrungen. Dabei kommen die Täter schlecht weg – und sinnen auf Rache. Die üben sie, indem sie der Presse die unschönen Äußerungen verbieten lassen.
Die Gerichte verbieten den Medien jede persönlichkeitsrechtseinschränkende Tatsachendarstellung, deren Richtigkeit sie nicht beweisen können. Der Betroffene hat dann einen (zivilrechtlichen) Unterlassungsanspruch. In Zukunft darf die Zeitung nicht wiederholen, was sie behauptet hat. Denn was bereits geschrieben wurde, kann schließlich nicht mehr rückgängig gemacht werden. Bisher entschieden die Gerichte in solchen Auseinandersetzungen um Unterlassungen unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht im Zweifel für die Presse: Wenn die umstrittene Äußerung mehrdeutig war, dann legten sie ihrem Urteil jene Interpretation zugrunde, die günstiger für den Äußernden war. Das heißt: Wenn eine Äußerung mehrere Auslegungen zulässt, dann ist die Auslegung, die nicht die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen verletzt, vom Gericht als Maßstab zu nehmen, und sie kann nicht verboten werden. In jedem zweiten Prozess über Unterlassungsansprüche stritten die Anwälte wortreich um die möglichen Auslegungsvarianten. Es gibt unzählige Urteile, mit denen Unterlassungsansprüche abgewiesen wurden, weil auch ein Textverständnis möglich war, das den Betroffenen nicht verletzte (siehe die beiden Beispiele in den Kästen). Diese Rechtsprechung bewahrte die Journalisten vor Selbstzensur, vor der Schere im Kopf. Man wollte ihnen nicht zumuten, jedes denkbare Textverständnis vorauszusehen und zu vermeiden. Diese gefestigte Rechtsprechung scheint das Bundesverfassungsgericht mit der Stolpe-Entscheidung verlassen zu haben.
Aus dem Urteil (siehe Auszug) geht hervor, dass die Presse zukünftig bei jeder nur möglicherweise verletzenden Darstellung Unterlassungsverpflichtungserklärungen abgeben muss. Wenn sich jemand meldet und behauptet, er sei in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, muss die Presse sämtliche denkbaren Textauslegungsmöglichkeiten durchprüfen und dem Betroffenen versprechen, dass zukünftig eine eindeutig „harmlose“ Formulierung gewählt wird – oder eine saftige Strafe fällig ist.
Der Tag dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie eins zu eins von der Rechtsprechung umgesetzt würde, ist ein wahrhaft schwarzer Tag für die Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit. Das Urteil hat eine viel größere Bedeutung als die vielbeachtete „Caroline-Entscheidung“ des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, die neue Maßstäbe für Bild- und Persönlichkeitsrechte von Prominenten zu setzen versprach. Tatsächlich wird jeder Redakteur – jetzt mit der von Karlsruhe verordneten Schere im Kopf – jede nicht gänzlich fern liegende Deutungsmöglichkeit seines Textes ausschließen müssen, um rachsüchtigen Betroffenen zu entgehen. Das Ergebnis wird sein: unlesbare Texte mit gedrechselten und verschrobenen, jede Irritation ausschließenden Sätzen, voller vorsichtiger Vermeidungen und furchtsamer Auslassungen. Sprechen wir mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: Die Drohung mit diesen völlig unkalkulierbaren Deutungsmöglichkeiten der Betroffenen wird über kurz oder lang „einschüchternde Wirkung (auf die) freie Rede, freie Information und freie Meinungsbildung (haben), (diese daher) empfindlich berühren und damit die Meinungsfreiheit in ihrer Substanz treffen“. Was haben sich die Richter dabei nur gedacht?
Übrigens: Die Fall Stolpe gegen Lehmann-Brauns (taz berichtete gestern), in der die eben beschriebene Entscheidung erging, erforderte diesen Rechtsprechungswandel überhaupt nicht. Hätte das Gericht einfach den Grundsatz zugrunde gelegt, dass ein Verdacht nicht als feststehende Tatsache beschrieben werden darf, sondern als Verdacht gekennzeichnet werden muss, hätte der Klage des Stolpe ohne Weiteres stattgegeben werden müssen. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Und das ist in Ordnung.
Der Autor ist Presseanwalt in Berlin