: Großartig richtungslos
Techno oder House bieten nur selten Raum für komplizierte Gefühle: Chelonis R. Jones’ Debütalbum „Dislocated Genius“ kennt sie alle. Es ist streitsüchtig, traurig, ärgerlich, paranoid und verliebt
VON GEETA DAYAL
„So gehe ich auch auf die Straße.“ Chelonis R. Jones sitzt in einem Raum seiner Berliner Plattenfirma, des Houselabels Get Physical. Er trägt eine Jacke in bleichem Gelb, ein braunes T-Shirt, schwarze Hosen und einen feinen rosa Schal. So zieht er sich jeden Tag an, sagt er. Er hat eine sanfte Art, spricht leise und wirkt ein wenig schüchtern. Mit den langen Dreadlocks und seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck hat er umwerfende Ähnlichkeit mit Jean-Michel Basquiat.
Jones ist sein ganzes Leben gereist und von Ort zu Ort gesprungen. Kalifornien, New York, Europa. Im Augenblick wohnt er in Frankfurt, wo er malt, Gedichte schreibt, singt und Platten einspielt. „Dislocated Genius“ (Get Physical/Intergroove), der Titel seines Debütalbums, nimmt das Thema der Orientierungslosigkeit auf, sein Gefühl, sich immer als leicht fehl am Platze zu empfinden.
„Dislocated“ leuchtet also ein, aber „Genius“? Ein Statement, übertroffen nur noch vom Cover, das mit dem alten rassistischen Stereotyp des Wassermelonen fressenden Schwarzen spielt? Der schwarze Junge auf dem Cover heißt Leroy, sagt Jones. „Es ist ein richtiges Gemälde, ich habe es in meinem Wohnzimmer hängen.“ Die anderen Titel der Platte sind ähnlich bedeutungsüberladen: „Blackface“, „Middle Finger Music“. Eines seiner Nebenprojekte ist eine Band namens Coon – ein altmodisches Schimpfwort im Amerikanischen für Schwarzer. „Es hört sich schön an, ich mag, wie es klingt, ich mag, wie es aussieht“, erläutert Jones, „leg dieses Wort in die Hände eines schwarzen Sängers und es wird scandalous.“
Soll das eine Provokation sein? Was will der Künstler uns sagen? Im Stück „L. A. Mattress“ singt er, er sei „too black to live“. In einem anderen Stück heißt es, er würde Stimmen hören. Dann singt er „I’m the hair in your cuisine“. Was soll das heißen? „Ich lebe in einem fortwährenden Zustand des Unwohlseins“, sagt Jones. Und der Konfusion, sollte man hinzufügen, denn genau darin liegt die Stärke von Jones’ Musik.
Denn tatsächlich bietet die elektronische Tanzmusik dieser Tage wenig Raum für Gefühle des Durcheinanderseins, der Angst oder der Verletzlichkeit. Techno und House arbeiten innerhalb des recht engen Rahmens eines Four-to-the-floor-Funktionalismus, für den es vollkommen ausreichend ist, die Party zu rocken. Umso erstaunlicher, dass Jones bei Get Physical untergekommen ist, einem Label, das in den vergangenen zwei Jahren wie kaum ein anderes verstanden hat, zugleich glitzernde und bolzende Partytracks herauszubringen – für den Partylifestyle, den diese Musik suggeriert, kommt Jones einem zu fragil vor. „Ich bin immer einer derjenigen gewesen, die irgendwo hinten im Club stehen und die anderen beobachten“, sagt er dann auch. Selbst wenn seine Musik heute nahe am House gebaut ist, hat er sich seine ersten Inspirationen aus der Musik von düsteren Gothic-Bands wie Bauhaus und The Damned gezogen, zusammen mit Billie Holiday und den Smiths. „Als Teenager bin ich ständig mit ‚Hatful of Hollow‘ auf einer Kassette herumgelaufen.“
Die Musik von Chelonis Jones stellt mehr Fragen, als sie beantwortet. Die Worte singen das eine, sie sind streitsüchtig, traurig, ärgerlich, paranoid, unglücklich verliebt. Seine gefühlsschwere und R-&-B-geschulte Stimme singt andere. Ist dies Rock- oder Dancemusic? Wütende oder traurige Musik? Ist sie schön oder hässlich? Ängstlich oder in your face? Diese Platte ist großartig, weil sie nicht weiß, was sie will.