: Erwünschte Erschütterungen
Die Not ist groß in Kaschmir nach dem Erdbeben. Ab heute wirbt die UNO auf einer Geberkonferenz für mehr Geld für die Opfer. Für Pakistan birgt das politische Chancen
86.000 Menschen sind bei dem Erdbeben in Pakistan gestorben, Hilfsorganisationen warnen vor weiteren Toten, wenn die internationale Gemeinschaft nicht großzügiger spendet. Daher sind die offiziellen Erwartungen an die internationale Konferenz, die heute in Islamabad beginnt, hoch: UN-Generalsekretär Kofi Annan bat die internationale Staatengemeinschaft gestern eindringlich um ein stärkeres Engagement in der Erdbebenregion.
Die pakistanische Militärdiktatur will die für den Wiederaufbau notwendigen 4,7 Milliarden Euro einwerben. Und die Gebernationen wollen das Leid lindern, nicht als geizig dastehen oder ihr Image verbessern. So wird etwa erwartet, dass sich die USA von Botschafterin Karen Hughes vertreten lässt, die als stellvertretende Staatssekretärin verantwortlich für die Imageverbesserung der USA in der muslimischen Welt ist.
Imageprobleme sind denn auch das verbindende Element der Konferenz. Kofi Annan ist mit seiner Reform der Vereinten Nationen genauso gescheitert wie mit seinem Programm einer institutionalisierten internationalen Solidarität auf dem Weltgipfel vom September. Immer noch mit Korruptionsvorwürfen aus dem Öl-für-Lebensmittel-Programm konfrontiert, lässt er sich von „Mister Tsunami“ Jan Egeland beraten, ohne das Verschwinden von Millionen dieser Spendenaktion untersuchen zu lassen. In Islamabad versucht er nun zu beweisen, dass die UN im Allgemeinen und er im Besonderen doch noch eine Bedeutung haben. Indem die UNO die Geberkonferenz aktiv fördert, hoffen ihre Unterorganisationen wie das Entwicklungsprogramm (UNDP), dass für sie ein großes Stück vom Kuchen für die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit übrig bleibt.
Auch bei der Militärregierung ist die als Internationale Geberversammlung ausgegebene Bettelkonferenz eine Imagefrage. Eine Militärdiktatur, deren Armee bei einer Naturkatastrophe im Chaos versinkt und deren Strukturen beständig bei der Verteilung der Hilfsgüter versagen, stärkt die Forderung nach einer Zivilisierung und Entmilitarisierung der Politik. Die zurückhaltende internationale Solidarität wird auch in den pakistanischen Eliten auf das schlechte internationale Image des Landes zurückgeführt.
Die Bombenanschläge von London, die Gesetzlosigkeit in den Grenzregionen zu Afghanistan und Iran oder die anhaltende Unterstützung des als Freiheitskampf deklarierten Terrorismus im indisch besetzten Teil Kaschmirs lassen die internationale Staatengemeinschaft mehrfach überlegen, wo die immer knapper werden Ressourcen der Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt werden.
Würde die internationale Geberkonferenz den Ursachen des schlechten Images nachgehen und nicht – wie zu vermuten – das von Einzelnen geleistete als nationale Leistung der Armee ausgeben, dann könnte dieses Treffen mehr als nur ein Gewinn für die Hotelindustrie sein. Die Konferenz birgt eine Chance, die es zu nutzen gilt, um den vom Erdbeben betroffenen Menschen unmittelbar und der von einer Kleptokratie und Bürokratie betroffenen Nation mittelbar zu helfen. Das Erdbeben hat Pakistan wachgerüttelt. Während jedoch die Zivilgesellschaft zu einer ungekannten nationalen Solidarität fand, sind die Eliten weiterhin in Tagträumereien gefangen, und die internationale Staatengemeinschaft träumt mit.
Eine Chance für die pakistanische Bevölkerung liegt darin, dass sich die Militärregierung vom Traum verabschiedet, einzig die Armee sei einer Katastrophe gewachsen. Die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, islamistische und militante Paramilitärs eingeschlossen, waren eher in den betroffenen Regionen und leisten nachhaltigere Arbeit als die hierarchischen Armeestrukturen. Diese Erfahrung könnte die dominante Stellung des Militärs im Land nachhaltig erschüttern – die Folgen sind noch nicht abzusehen.
Eine weitere Chance für das Land liegt in der Schaffung von effektiven und kontrollierbaren Verteilungsstrukturen für die Spenden und Hilfsmittel. Auch hierzu ist eine Zivilisierung der Kontrolle notwendig. Militär- und Entwicklungshilfe aus den 80er- und 90er-Jahren wurde auf Auslandskonten von Generälen gefunden, die gegen das sowjetbesetzte Afghanistan und mit Moskau liebäugelnde Indien rüsteten.
Die Chance für die Vereinten Nationen liegt darin, endlich ihre Maßnahmen und Hilfsprojekte nach Qualität und nicht nach Quantität zu beurteilen. Der Ruf nach mehr Geld ist heute genauso falsch wie der Ruf nach mehr Zelten. Die Zelte liegen ungenutzt auf den Flughäfen, weil sie nicht winterfest sind. Viele Entwicklungshilfeprojekte geben ihre Mittel nicht aus, weil die Implementierung an der korrupten und bürokratischen Bundes- oder Distriktregierung scheitert. Bis vor kurzem wurden die Vereinten Nationen durch den Chef von UNDP im Land vertreten, der so gute Kontakte zur Militärregierung hatte, dass ihm sogar die pakistanische Staatsbürgerschaft angeboten wurde. Wenn die Bundesregierung wie angekündigt ein Teil der Mittel für den Aufbau von Schulen verwenden will, so sollte sie vorher prüfen, wie viele der 17.000 jetzt unbrauchbar gewordenen Schulen vorher mit Mitteln bilateraler Entwicklungshilfe gebaut wurden.
Die größte Chance auf eine Verbesserung der Lage liegt derzeit aber in der Lösung der Kaschmirfrage. Bisher behindern Partikularinteressen eine Lösung des Konflikts – doch es gibt Grund zur Hoffnung: In dieser Woche haben sich erstmals Vertreter der Pro-Indien-Fraktionen mit der separatistischen „Kashmiris All Parties Hurriat Conference“ getroffen. Als Ergebnis forderten sie die „Vereinigten Staaten von Kaschmir“. Eine kaschmirische Eigenstaatlichkeit würde die Rolle des Militärs in der Region nicht nur einschränken, sondern aufheben. Die Entmilitarisierung würde dabei nicht nur den als besetzt bezeichneten indischen und als befreit benannten pakistanischen Teil mit umfassen, sondern auch die Northern Areas von Pakistan, in denen ausschließlich das pakistanische Militär regiert und seine Präsenz durch teilweise geheimdienstlich gesteuerte Attentate rechtfertigt.
Ohne die Vereinten Nationen wird es aber in der Region keinen Frieden geben. Die UN – ohnehin zur Einhaltung des Waffenstillstands mit Blauhelmsoldaten vor Ort – können hier mehr als nur Mediator sein. Notwendig ist ein robustes Mandat der Blauhelme für das gesamte Kaschmir. Die Geberkonferenz von heute könnte dabei den ersten Schritt in diese Richtung gehen, indem sie eine sofortige Freigabe der eingerichteten fünf Übergänge an der Waffenstillstandslinie auch für die blockierte internationale Hilfe fordert. Der Freizügigkeit der Hilfsgüter müsste dann die Freizügigkeit der Kaschmiris folgen. Schließlich wäre ein entmilitarisiertes, vereinigtes und freies Kaschmir der größte Gewinn, der aus dem Verlust durch das Erdbeben erlangt werden könnte.
NILS ROSEMANN