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Archiv-Artikel

betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

ESTHER SLEVOGT

Die Geschichte der jungen Frau, die nach einem psychischen Zusammenbruch von ihrem Mann (angeblich zwecks besserer Genesung) in ein heruntergekommenes Landhauszimmer mit abblätternder gelber Tapete gesperrt wird, gilt als ein feministischer Urtext. Er stammt von der amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman und ist 1892 zuerst erschienen: eine Reise in den psychischen Ausnahmezustand einer jungen Frau, dessen Ursache ihre vollkommene Unterdrückung, der Versuch der Auslöschung ihrer Persönlichkeit und totale Fremdbestimmtheit ist. Diese paradigmatische Erzählung, die Jane Austens ohnmächtige Frauengestalten mit den Mitteln des Schauerromans ins Superrealistische treibt, ist der berühmteste Text dieser Autorin, die 1915 mit „Herland“ auch einen Roman über eine reine Frauenrepublik veröffentlichte. In der Schaubühne inszeniert die britische Regisseurin Katie Mitchell die Geschichte von der eingesperrten Frau, die ihr Alter Ego plötzlich hinter der Tapete rumoren spürt. Mit ihrer sezierenden Live-Video-Inszenierungstechnik hat Katie Mitchell schon in früheren Arbeiten Reisen durch Bewusstseinsströme von Frauen in Extremsituationen unternommen. Ihr Kölner Friederike-Mayröcker-Abend „Reise durch die Nacht“ wurde gerade zum Theatertreffen eingeladen. (Schaubühne: Die gelbe Tapete: ab 15. 2., 20 Uhr).

In einer Extremsituation befindet sich auch Konrad, der Protagonist von Thomas Bernhards frühem Roman „Das Kalkwerk“. In dieses ausgediente Werk nämlich hat er sich zurückgezogen, um dort eine wissenschaftliche Arbeit über das Gehör zu schreiben. Unfreiwilliges Opfer von sadistischen Versuchen: seine an den Rollstuhl gefesselte Frau. Immer wieder muss sie Experimente ertragen: zum Beispiel sagt Konrad ihr in wechselnden Lautstärken stundenlang immer dieselben Worte ins Ohr. Der Ausnahmekomponist Helmut Oehring, 1961 in Ostberlin als Kind gehörloser Eltern geboren, hat auf der Basis dieses Romanstoffs gemeinsam mit dem Berliner Performancekollektiv Parallelaktion und dem Streichquintett ensemble mosaik einen Musiktheaterabend über das Hören entwickelt, der am heutigen Donnerstag im Radialsystem uraufgeführt wird. (Radialsystem: Kalkwerk, ab 14. 2., 20 Uhr).

Die im Kontext der Hör- und Sichtbarmachung von Rassismus begonnene Debatte über im kolonialistischen und rassistischen Denken wurzelnde Begriffe in Kinderbuchklassikern wird am Mittwoch im Ballhaus Naunynstraße fortgesetzt. (Ballhaus Naunynstraße: Black Intervention, 20. 2., 19 Uhr).

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