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Archiv-Artikel

Müßiggangster auf Matratzenlager

SAMBA, KOKS UND POOL Dem brasilianischen Tropicália-Künstler und Hedonisten Hélio Oiticica widmet das Forum eine Doku, im Forum Expanded kommt seine Drogenkunst zur Wiederaufführung

VON JULIAN WEBER

Der Establishing-Shot: eine Termite, die sich in Gegenrichtung zum Hauptstrom auf einer Termitenstraße bewegt. Dazu eine irre schnelle, perkussiv-klappernde Version eines Stücks von J. S. Bach. Im Samba-Rhythmus. Die Erklärung liefert die Tonspur im Abspann: „Mainstream? Alle brasilianische Kunst ist Underground.“ Das Tonband leiert, und so klingt Hélio Oiticicas melodiöses Portugiesisch methodisch gesprochen, aber langsam. Die Langsamkeit täuscht. Der brasilianische Künstler (1937–1980) war ein schneller Geher, ein „wandelndes Delirium“, wie er über sich selbst sagte, immer unterwegs zwischen verschiedenen künstlerischen Milieus (Film, Musik, Kunst), zwischen Favela und Innenstadt, zwischen Rio und New York.

„Sei unbedeutend, sei ein Held“, gab er 1968 als Parole aus. Mit Schablone sprühte er sie auf eine rote Stofffahne, darüber einen am Boden liegenden Menschen, in Schwarz, die Arme weit von sich gestreckt und die Beine übereinandergeschlagen. Dem Müßiggangster Oiticica ging es darum zu zeigen, wie Kunstexperimente auf das Alltagsleben angewendet werden können. Seine Universität sei „die Straße“, erklärte er und fügte Asphalt-Brocken von Baustellen zu einem Erzählhaufen, den er dann „Betondelirium“ nannte. Ideen und Kunstobjekte waren bei ihm untrennbar miteinander verbunden.

Als „radikalsten Erneuerer der brasilianischen Kunst der Sechziger“, beschreibt ihn Christopher Dunn in seiner Kulturgeschichte „Brutality Garden“, die die Entstehung der Tropicália-Bewegung zum Thema hat. Oiticicas Neffe Cesar hat nun auf der Basis von Filmausschnitten, die für Oiticica Senior Bedeutung hatten, einen Dokumentarfilm geschaffen, auf dessen Tonspur er Musik sowie zahlreiche O-Töne von Hélio Oiticica gelegt hat. Dieses vielteilige Mosaik ergibt einen beeindruckenden Bilderrhythmus. Begleitend zu den Berlinale-Screenings dieser Doku ist im Hamburger Bahnhof ein Originalwerk von Oiticica zu sehen, das in den siebziger Jahren in New York entstanden ist.

Heute sind freilich die Musiker der Tropicália-Bewegung bekannter als Oiticica: Caetano Veloso und Gilberto Gil gelten als brasilianische Volkshelden. Dabei war Oiticica ihr Theoretiker, der sie 1968 auch ins Exil nach London begleitete. Ein Jahr zuvor war es ebenfalls Oiticica, der für eine Ausstellung in Rio das namensgebende Werk „Tropicália“ schuf, eine dreidimensionale Installation aus sogenannten penetráveis (durchdringbaren Einheiten), Holzverschlägen, die der chaotischen Architektur der Favela-Behausungen nachempfunden waren. Hélio Oiticica nahm, solange er in Rio lebte, jedes Jahr am Samba-Umzug der Leute aus der Favela Manguiera teil. Er galt als kollektivistisch Getriebener genauso wie als begnadeter Tänzer. Wie zum Beweis sieht man ihn im Film schnittmusterartige Linien auf den Asphalt ziehen, die Beine im Sambabeat verstrickt.

In New York, wohin Oiticica 1970 mit einem Guggenheim-Stipendium geht, werden aus den Linien lines, in seiner Werkreihe „Cosmococa – Programa in Progress“: Multimedia-Installationen, die die Rolle des kinematografischen Bildes in der Kunst hinterfragen, sich auf Popkultur beziehen und die Droge zentral in die Bildmitte rücken. Aus dem Kollektivgedanken wird ein stärker individualisierter Bezug auf den eigenen Körper. Im Hamburger Bahnhof ist der sechste Teil der Cosmococa-Reihe („CC6 Coke’s Head Soup“) zu sehen.

Ohne Schuhe fläzt man in einer Matratzenlandschaft und sieht vier Projektionen an vier Wänden. Zu sehen ist Mick Jaggers verhülltes Gesicht vom Cover des Rolling-Stones-Albums „Goat’s Head Soup“, als Werbeanzeige auf der Rückseite einer Ausgabe des Magazins Rolling Stone. Zu hören sind die Stones, Schreibmaschinengeklapper, Polizeisirenen. Allmählich werden die Konturen auf Jaggers Gesicht zu lines aus Koks. Oititica eignet sich die Bilder an, verfremdet ihre Aussagen, die Erfahrung der Betrachter soll „suprasinnlich“ werden. Nach Einnahme des Koks könnte man wahrscheinlich direkt bis nach Rio schwimmen.

Im Berliner Liquidrom fand Oiticicas Hedonismus in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch eine adäquate Umsetzung. Ein Sequenzloop aus „Cosmococa 4“ wurde vier Stunden lang an die geschwungene Schwimmbaddecke projiziert, man konnte die Bilder vom Wasser aus genießen – auch eine Berlinale-Premiere. Zwischen Security-Personal und Hipsterbadenixen und -badefaunen wurde der Betrachter am Beckenrand allerdings von circa 37 Grad Raumtemperatur und hoher Luftfeuchtigkeit erschlagen. Mühsam ernährt sich die Termite, die gegen den Mainstream läuft.

■ „Hélio Oiticica“ (Doku). Heute, Arsenal 1, 17.30 Uhr; „Cosmococa 6“: bis 24. 2., Hamburger Bahnhof