Debatte 30 Jahre Grüne: Hat sich die Partei überholt?

Ja, sagt Stefan Reinecke, denn die Grünen sind zwar erfolgreich, aber ohne Eigensinn. Nein, sagt Andreas Fanizadeh, denn fast alles, was das Land lebenswerter macht, verbindet sich mit den Grünen.

Bekanntes und lautes Gesicht der Grünen: die Bundesvorsitzende Claudia Roth. Bild: ap

JA

Die Grünen sind enorm erfolgreich. Wenn man sich das Chaos der Gründungsjahre vor Augen führt, ist es erstaunlich, dass aus der Mixtur von Ökos, Exkommunisten und Alternativen eine zuverlässige Partei geworden ist. Die Grünen haben ihren Fundamentalismus überwunden und sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, selbstverständlich ohne dabei ihre Ideale zu verraten. Sie haben sich mehrfach gehäutet und sind so dem Schicksal entronnen, zur Generationspartei zu werden, die mit Fischer, Trittin & Co ausstirbt.

Auf der Habenseite stehen ganz groß der Ausstieg aus der Atomenergie und der Einstieg in die erneuerbaren Energien. Außerdem haben sie sich clever aus der Fixierung auf die SPD gelöst. Schwarz-Grün, das sie noch etwas verstohlen anvisieren, symbolisiert das Ende des Generationskonfliktes, der 1980 der Treibstoff für das Projekt war. Die Grünen sind erwachsen geworden.

So ungefähr sieht das Selbstbild der pragmatischen Grünen nach 30 Jahren aus. Es klingt wie ein Märchen. Und genau das ist es auch: ein Märchen zur Selbstberuhigung. "Sozial - ökologisch - basisdemokratisch - gewaltfrei", das wollten die Grünen 1980 sein. Gewaltfrei? Der Pazifismus ging bei der erstbesten Gelegenheit im Kosovo und dann in Afghanistan über Bord. Basisdemokratie? Kaum eine andere Partei hat sich derartig autoritär von einer Figur kujonieren lassen wie die Grünen von Joschka Fischer.

Sozial? Hartz IV hat die Sozialdemokraten an den Rand der Selbstzerstörung getrieben. Die Grünen, die auch brav dafür gestimmt haben, hat die Agenda 2010 kaum eine Stimme gekostet, weil die eigene gut situierte Klientel Hartz IV nur aus dem Fernsehen kennt. So gründlich und schnell hat selten eine Partei ihre Ideale an den Nagel gehängt.

Merkwürdig ist, dass den Grünen all das nicht richtig geschadet hat. Es ist ihnen noch nicht mal aufs Gemüt geschlagen. Irgendwie lebt die grüne Klientel in dem beruhigenden Bewusstsein, eine Art Abo auf Moral zu haben. Aber man kann ja trotzdem mal mit der Union koalieren. Klar, eigentlich wissen Grüne, dass die Welt noch immer in einem skandalösen Zustand ist. Aber man hat sich halt dran gewöhnt.

Wie dehnbar das grüne Weltbild ist, zeigen die postpolitischen Karrieren der früheren Alternativhelden. Joschka Fischer berät Energiekonzerne, BMW und Siemens, Rezzo Schlauch Kernkraftwerksbetreiber, Matthias Berninger wechselte vom Staatssekretärssessel direkt zu einem Süßwarenkonzern. Bei der SPD reagierten wenigstens ein paar verschnupft, weil Schröder mit Gazprom anbändelte und Clement für RWE arbeitete. Bei der Ökopartei ist man da ganz, ganz liberal. Die Grünen sind eine Art FDP mit Gutmenschen-Soundbites geworden. Und über allem liegt eine stickige, neobürgerliche Gemütlichkeit, die jeden Streit im Keim erstickt.

Das ist der eigentliche Preis, den die Partei für ihre Biegsamkeit bezahlt hat. Sie ist bieder und intellektuell anspruchslos geworden. Die harten, oft verbissen ausgetragenen Kontroversen, die es bis in die späten 90er-Jahre gab, sind Geschichte. Es gibt zwar offiziell noch Realos und Linke. Aber das sind nur historische Hausnummern, die man aus Gewohnheit beibehält. Im Grunde passt zwischen Kuhn und Trittin, Künast und Roth kein Löschblatt. Es ist diese bräsige Selbstgefälligkeit, die die Grünen auch ästhetisch zum Problem macht.

Natürlich gibt es ein paar intellektuelle Produktivkräfte. Etwa Sven Giegold, der von Attac kam und das kluge Green-New-Deal-Konzept mit erarbeitet hat. Doch das grüne Milieu tickt längst anders. Man sollte sich auch von dem radikalen Wahlprogramm 2009 nicht täuschen lassen. Jeder weiß, dass davon nichts übrig bleibt, wenn die Grünen mal wieder regieren. Wahrscheinlich dann eher mit der Union als mit SPD und Linkspartei.

Aber was ist mit der Ökologie, die sich die Partei vor 30 Jahren auf die Fahne schrieb? Ist das kein ausreichendes Sinnreservoir? Zum Teil. Das ökologische Denken ist - auch dank der Grünen - in die Gesellschaft eingesickert. Der Preis dieses Erfolges ist, dass Öko kein Alleinstellungsmerkmal mehr für die Partei ist.

Angesichts des Klimawandels tut ein neuer, ökologischer Radikalismus not, der viel mehr sein muss als ein bisschen netter Öko-Lifestyle. Es wird um Verzicht und fundamentale Änderungen gehen. Die Grünen aber sind eine Partei kostenloser Moral geworden. Sie haben ihren Eigensinn gegen den Glauben an das Machbare eingetauscht. Sie werden auch in den nächsten 30 Jahren Minister stellen und Wahlen erfolgreich absolvieren. Nur wichtig sind sie eben nicht mehr. Weil sie die Kraft, Unbequemes zu wollen, verloren haben.

STEFAN REINECKE ist Parlamentskorrespondent der taz.

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NEIN

Als mir die Zeitschrift konkret noch etwas bedeutete, Ende der 1980er, Anfang der 1990er, hatte es sich deren Herausgeber Hermann L. Gremliza zur Gewohnheit gemacht, monatlich das unmittelbar bevorstehende Ableben der Grünen zu verkünden. Auch das der taz - laut Gremliza die "Kinderfaz". Die Diagnose: mangelnder Radikalismus. Die undogmatische Neue Linke würde in Gestalt von taz und Grünen nur zur Modernisierung statt zur Überwindung des Kapitalismus beitragen.

Nun, zwanzig Jahre und zwanzig Fraktionsschlachten später sind die Verdächtigen stärker denn je im Bundestag vertreten. Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit schrieben Geschichte und trugen nicht unwesentlich zur Demokratisierung des Landes bei. Heute repräsentieren Cem Özdemir, Renate Künast, Jürgen Trittin oder Christian Ströbele die Partei und ihre unterschiedlichen Strömungen. Und auch wenn inzwischen in Gestalt der Linkspartei ein neuer politischer Akteur in den Ring getreten ist, um die dogmatische Westlinke mit der dogmatischen Ostlinken zu einen, den Grünen hat es bislang überhaupt nicht geschadet.

Diese verstanden sich seit ihrer Gründung als parlamentarischer Arm von Neuer Linken und Bewegungen. Trotz Regierungsbeteiligungen blieb die Verbindung zu den antiautoritären Flügeln der Bewegungen intakt. Auch diese haben sich in den vergangenen Jahren wie die Grünen stark verändert. Autonome Antifas wurden zu bürgerrechtlich agierenden Antirassismusbeauftragten. Nach der Ära des Helmut Kohl schien es oft klüger, mit den rechtsstaatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, als sie zu bekämpfen. Aus militanten Umweltschützern wurden pressegeschulte NGO-Angestellte, Dritte-Welt-Aktivisten reisten mit der früheren SPD-Entwicklungsministerin um die halbe Welt.

Die autoritäre Rhetorik von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi prallt an den Erfahrungen dieser Milieus ab. Die Lehre von Haupt- und Nebenwiderspruch zieht hier nicht. Schon die K-Gruppen gingen mit ihrem Primat des Ökonomischen im Westen baden. Trotz Afghanistan, Hartz IV oder Jugoslawien in der Vergangenheit blieb die Grüne Partei bei aller Kritik und Widersprüchlichkeit stabil.

Ganz offensichtlich ist das grüne Milieu vielschichtiger, als dies konservative sowie superlinke Gegner so gern behaupten. Fast alles, was das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten offener und lebenswerter gemacht hat, verbindet sich mit dieser Partei und den ihr nahen Bewegungen. Stichworte wie die Reform des völkischen Staatsbürgerrechts oder der Atomkonsens erklären nicht annähernd den auch habituell sichtbaren Wandel eines zuvor in Kohl erstarrten Deutschlands.

Turnschuhe gegen rote Sterne und Trachtenvereine: Eine Frau als Bundeskanzlerin, schwule Bürgermeister und Außenminister, ihnen ging der frühere autonome Straßenkämpfer im Amte des Außenministers voraus. Autonome und Grüne glauben neben einer vernünftigen wohlfahrtsstaatlichen Regulierung von jeher stark an die verändernde Kraft des eigenen Tuns. Man mag dies belächeln, doch Radfahrer leben länger und besser als die motorisierte Klasse.

Umverteilung ist nicht das selig machende Allheilmittel, solange es existierende Werte und Verwertungsmodelle nicht hinterfragt. Die alte sozialistische Linke denkt im Grunde immer noch in Haupt- und Nebenwidersprüchen. Die SPD stärker national und Abwrackprämien-orientiert, die Linkspartei schon mal international, mit Venezuelas Hugo Chávez als Maskottchen, dem eine menschenrechtlich orientierte Politik im Bündnis mit dem Iran so egal ist wie weiland Franz Josef Strauß oder Erich Honecker.

Die Grünen sind in den 1970ern entstanden, weil die SPD der CDU damals ähnlicher war als der neugierigen Jugend. Die autoritär-kommunistischen Gruppen und Staatsregime waren auch unattraktiv, da unfähig zur Erneuerung. Es ist albern, heute immer wieder neue ökonomistische Klassenrituale abzurufen und, obwohl die Grünen die meisten Stimmen auch in Bezirken wie Kreuzberg erhalten, das Klischee vom reichen grünen Villenbesitzer zu bedienen. Es ist und war die Stärke der Neuen Linken und später der Grünen Partei, sich in klassenübergreifender Solidarität zu sehen, ohne Verleugnung der Herkunft, als Gleiche unter Ungleichen.

Trotz Hartz IV, Bankenkrise und zu hoher Managergehältern: Das Leben ist mehr als ein Verteilungskampf. Das hatten all die Hippies und Aussteiger schon in den 1960ern begriffen. Doch alles hat seine Zeit. In Dosenpfand und Windrädern steckt möglicherweise kein Rock n Roll, doch Freunde des Sozialismus, die Welt ist widersprüchlicher, als ihr denkt! Du musst dein Leben ändern und so den Kapitalismus. Oder eben Monat für Monat konkret lesen.

ANDREAS FANIZADEH ist Leiter des taz-Ressorts Kultur.

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