: Coming-out der Provinz-Powergirls
Mit H-&-M-Ästhetik und Rave-Sound zielsicher jugendlich, cool und straßenkredibel: Ulla Theißen nötigt mit ihrer Adaption des schwedischen Kinohits „Raus aus Åmål“ am Gripstheater ihrem jungen Publikum allen Respekt ab
Wenn man mit vierzehn noch nie auf einem Rave gewesen ist, dann lebt man in der Provinz. Und wenn man erst aus der Beilage der Tageszeitung erfährt, dass Rave schon längst wieder out ist, dann ist das einfach eine Katastrophe.
Die vierzehnjährige Elin, die mit Mutter und Schwester in der schwedischen Kleinstadt Åmål lebt, stößt Frustschreie im Minutentakt aus. Da nützt es wenig, dass sie der umschwärmte Star der Schule ist und dank ihres fantastischen Aussehens wahrscheinlich irgendwann zur Miss Schweden gekürt wird. Denn die entscheidende Frage ist: Was soll man an diesen unendlich langweiligen Nachmittagen tun? H&M überfallen? Ikea anzünden? Doch dann verliebt sich die schüchterne Außenseiterin Agnes in Elin, und zwischen den Mädchen entspinnt sich eine zarte Liebesbeziehung.
Der Film „Fucking Åmål“, in dem die Frustrationen und Nöte der Pubertät mal von einer ungewöhnlichen Seite gezeigt werden, wurde 1998 in Schweden zum Kult. Die Besucherzahlen übertrafen sogar den Blockbuster „Titanic“. Nun ist die Geschichte in der deutschen Version „Raus aus Åmål“ am Gripstheater zu sehen. Und anders als in der Edelkitschvariante à la Hollywood hat die Liebe zwischen den beiden verschiedenen Mädchen hier sogar ein Happy- End.
„Tada! Da bin ich. Und das ist meine neue Freundin“, verkündet Elin den perplexen Mitschülern, nachdem sie Agnes auf dem Schulklo gestanden hat, dass sie ihre Liebe erwidert. Im Zuschauerraum wird dieses Coming-out mit johlendem Applaus begrüßt. Die Stimmung unter den jungen Premierenbesuchern ist hervorragend. Ob nun ein männlicher Verehrer (Jens Mondalski) Elin mit seinem Motorroller und lächerlichen Balzritualen beeindrucken will oder Elin, ganz Romeo-like, sich zu Agnes auf den Balkon hangelt – vor allem Material- und Körpereinsatz, die es in der Inszenierung von Ulla Theißen reichlich gibt, werden lautstark honoriert. Laut ist auch der Mix von Rock und Techno, der die kurz aufgeblendeten Szenen miteinander verbindet.
Überhaupt ist die Inszenierung, die nur von etwas umständlichen Umbauten aus dem Tritt gebracht wird, sehr energisch angelegt: Die beiden aufgetakelten Schwestern Elin (Nadine Warmuth) und Jessica (Katja Hiller) prügeln sich genauso leidenschaftlich um das letzte Kakaopulver wie sie sich im Anschluss wieder versöhnen. Und Jessicas Freund Markus (Daniel Jeroma), der coolste Eishockeyspieler von ganz Åmål, macht bei seinen Flirtversuchen noch nicht mal vor den Mädchen im Publikum halt.
Dass die Geschichte über die lesbische Liebe zweier junger Mädchen aber nicht zum Klischee verkommt, liegt vor allem an Agnes (Stephanie Schreiter). Zwar ist sie, die heimlich Liebesgedichte in ihren Laptop tippt, das komplette Gegenteil ihrer schlicht gestrickten Angebeteten. Die hässliche, Trübsal blasende Stubenhockerin, der das „Anderssein“ schon grundsätzlich anhaftet, ist sie aber auch nicht. Für das jugendliche Publikum scheint sie, in lässiger Cordhose und Streifenhemd, genauso Sympathieträgerin, auch wenn sie ihr Lebensglück nicht von einem Ravebesuch abhängig machen will.
Und so darf man tatsächlich staunen darüber, wie stil- und treffsicher sich das Grips in dieser Inszenierung seiner Zielgruppe annimmt. Als in der Pause zwei vierzehnjährige Jungs im Rapper-Outfit über die Bühne schlurfen, ist man nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht doch zum Ensemble gehören. Die kichernden Mädchencliquen im Foyer können, was Klamotten- und Make-up-Arrangement betrifft, Elin und ihrer Schwester Jessica allemal das Wasser reichen. Wenn man es so macht, funktioniert ein Provinzstück auch in Berlin. Das Hansa-Viertel könnte ohnehin gut in einer Kleinstadt auf dem platten Land liegen. Mit dieser Inszenierung hat sich das Grips ganz sicher uneingeschränkte Street Credibility erobert. Oder, wie im Foyer zu hören war: Respekt, Alter!
WIEBKE POROMBKA
Nächste Termine: 8. bis 10. 12.