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Archiv-Artikel

Handys statt Schlüpfer

Die technische Revolution kommt bei Konzertfans an: Das Wunderkerzenzündeln ist out

Ein weiblicher Fan fiel mit der Tür ins Haus: „Mein heutiger Eisprung ist für dich, Robbie!“

Die Branche der Konzertveranstalter hat gut lachen, das deutsche Volk stürmt die Hütten und Paläste des Showbiz, was es auch koste. Der Grund ist simpel, man will sich amüsieren, gerade in schwerer Zeit. Mag der Konzertgänger bis kurz vor der Veranstaltung und auch wieder danach ein rechter Griesgram sein, währenddessen keineswegs. Da möchte er zeigen, wie gut er drauf ist. Das gilt für altersgeplagte Heino-Verabschieder ebenso wie für die finsteren Gestalten aus der Gruftieszene, die gern ihr trauriges Dasein abfeiern. Ganz gleich, um welche Szene es geht, im Laufe der Zeit hat sich der Homo fanaticus diverse Rituale ausgedacht, die seiner freudigen Erregung als Konzertbesucher sichtbaren Ausdruck verleihen.

Selbstverständlich sind geschwenkte Feuerzeugflammen und Wunderkerzen immer noch bewährte Klassiker der zur Schau gestellten Seligkeit. Aber quer durch die Musikgenres hat inzwischen eine Spezialisierung beim Frohsein in Concert stattgefunden, die vor allem eines offenbart: Manchmal ist das Fan-Getue noch peinlicher als das Geschehen auf der Bühne.

Wie sehr sich der Mensch als Bühnenranderscheinung in immer neue Höhen der Lächerlichkeit aufgeschwungen hat, zeigt ein Blick zurück in die Tiefen der „ZDF-Hitparade“, einer Legende gesitteter Faneuphorie. Im züchtigen Schlagerland von Dieter-Thomas Heck kultivierte man noch das devote Blumenüberreichen mitten im Playbackvortrag des Sangeskünstlers. Allerdings wurden die Blumen manchmal auch dort schon geworfen – ein Gunstbeweis, der sich beim Publikum bis heute in verschiedener Form erhalten hat. Je nach Szenetradition fliegen den Unterhaltungskünstlern – quasi stellvertretend für die Herzen der Fans – Plüschtiere (Boygroups), Bierbecher, gern auch volle (Heavy Metal), oder weibliche Unterwäscheteile (Tom Jones, früher) entgegen. Von fliegenden Männerschlüpfern wurde freilich noch nichts bekannt, nicht mal bei Madonna oder Elton John, die das sicher sofort allen erzählt hätten.

Ohnehin ist es nicht jederfans Sache, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, so wie eine besonders gewitzte Robbie-Williams-Anbeterin während seines Aufenthalts kürzlich in Berlin. Offenbar wahnsinnig getrieben von ihrer rapide tickenden biologischen Uhr hatte sie mit der Losung „Mein heutiger Eisprung ist für dich, Robbie!“ totale Hingabe zum Popleader demonstriert. Etwas zurückhaltendere Konzertteilnehmerinnen beließen es freilich beim Hochhalten eines „I love you“-Plakats. Während so was klassischer Mädchensport ist, erschöpfen sich die männlichen Freunde des engen Körperkontakts lieber beim Bodysurfen über den Köpfen der willigen Massen, in der Fachsprache Crowdsurfing genannt.

Wem das alles zu viel Stress ist, bleibt einfach weiter hinten stehen und zeigt seinen inneren Überschwang gegebenenfalls durch heftiges Kopfnicken (Headbanging) oder durch Luftgitarrespielen. Für letztere Übung gibt es inzwischen sogar offizielle Weltmeisterschaften, bisheriger Höhepunkt der Kommerzialisierung von Fanritualen. Leute, die sich nicht mit solchen frühpubertären Anwandlungen zum Obst machen wollen, andererseits jedoch nicht vor Bon Jovis Stadionrock zurückschrecken, stürzen sich gern in die berüchtigte La-Ola-Welle. Obwohl sie als eine Art kollektives Winkelement ein wenig an die DDR-Jubelevents erinnert, ist die Wir-sind-gut-drauf-Kundgebungsform in Wahrheit nach der Fußball-Weltmeisterschaft 1986 aus Mexiko in die hiesigen Stadien geschwappt.

Welche Späße die Freunde der Livemusik auch immer treiben, das Dilemma an allen ist: Niemand außerhalb des Konzertorts – außer benachbarte Anwohner, die aber auch lieber klagen als sich zu freuen – kann an der Euphorie teilhaben. So war es jedenfalls, bis das Handy, der nützliche Idiot der Konsumtechnik, auch hier für Abhilfe sorgte. Seither hat der Wahnsinn wieder eine neue Methode, die neuerdings immer öfter zu beobachten ist. So wie neulich bei den Kaiser Chiefs – wobei die Band egal ist. Während die es vorn auf der Bühne krachen ließen, griff ein Mädchen hinten im Pulk zu ihrem Mobiltelefon und hielt es hoch. Ab und zu brüllte sie ins Gerät, wohl in der Absicht, ihr Liveerlebnis mittels einer Portion grottigen Soundbreis an einen befreundeten Mitmenschen zu übertragen. Wenn man bedenkt, dass der möglicherweise gerade mit Abwaschen, Lesen oder sexuellem Vorspiel beschäftigt war, kann man sich vorstellen, dass der Gefühls- und Begeisterungstransfer an seine Grenzen stößt.

Das scheint den Konzertbesuchern, die ihr momentanes Glücksgefühl unbedingt der Welt da draußen mitteilen müssen, jedoch ziemlich egal. So nimmt die Mode ihren Lauf, und das eher sinnlose, aber bereits weit verbreitete Konzertgängergetue ist flugs dabei, das Wunderkerzenzündeln als dümmlichstes Zuschauerritual abzulösen.

Den Konzertveranstaltern wird’s wurscht sein. Die sind ja froh, dass all die Handyverrückten überhaupt noch den Wunsch nach Livemusik haben und nicht nur Klingeltöne hören. Dass man in einer zweistündigen Ansammlung zumeist junger Menschen übrigens nicht einen Klingelton vernimmt, macht das Rockkonzert fünf Jahrzehnte nach seiner Erfindung zu einem größeren Phänomen denn je.

GUNNAR LEUE