Spiralen der Erinnerung

Drei chinesische Autorinnen, drei verschiedene Generationen, drei Arten des Umgangs mit Erinnerung. Die chinesische Literatur beginnt jenseits der linearen Perspektive zu erzählen

von SUSANNE MESSMER

Erinnerungen haben kein System. Mal schlagen sie ein wie der Blitz, mal lassen sie auf sich warten. Sie können plastisch sein oder verbrämt, glaubwürdig oder erdacht. Dass jede wirkliche Geschichte in vielen persönlichen Erinnerungen fortlebt und keine große, kollektive Erzählung mit Anfang, schlüssigem Plot und Ende ergibt – dass man sie nicht immer ordnen, werten und dann wegstecken kann, ist in der Literatur des Westens seit hundert Jahren Konsens. In der Literatur Chinas ist diese Erkenntnis noch immer etwas ganz Neues und Besonderes.

Man braucht nur in den wenigen chinesischen Neuerscheinungen zu blättern, die in letzter Zeit ins Deutsche übertragen wurden, und schon wird das klar. China ist das Land der schnellen Wechsel der Generationen. Xinran, Hong Ying und Xiaolu Guo, drei „Auslandschinesinnen“, die nach England emigriert sind und deren zweites, drittes und erstes Buch soeben in Deutschland erschienen ist, sind Ende vierzig, Anfang vierzig und Anfang dreißig. Obwohl sie also nicht so weit voneinander entfernt sind, ist der Umgang mit Erinnerung bei der Ältesten, bei Xinran, im Vergleich zu dem, was man vor der Öffnung des Landes aus China zu lesen bekam, spannend. Im Vergleich zu den Schreibweisen der Jüngsten, Xiaolu Guo, wirkt es schon wieder antiquiert.

Es ist die Idee der Protokollsammlung, die Chinas Autoren seit den Achtzigerjahren fasziniert – seit die offizielle Verwaltung von Geschichte nachgelassen hat – und der sich auch Xinran verpflichtet fühlt. 1958 geboren, hörte sie in China mehr als acht Jahre lang als Radiojournalistin ihren Anruferinnen zu. Als sie 1997 nach England ging, schrieb sie die gesammelten Berichte dieser Frauen nieder. Eine Sammlung dieser Geschichten erschien 2003 unter dem Titel „Verborgene Stimmen“ in deutscher Übersetzung – ihre neueste Geschichte hat sie vor zehn Jahren in Suzhou erzählt bekommen.

„Himmelsbegräbnis“ erzählt die authentische Geschichte einer chinesischen Ärztin, die dreißig Jahre lang unfreiwillig in Tibet lebte. Ihr Mann wurde Ende der Fünfzigerjahre als Militärarzt dorthin versetzt und wenig später für tot erklärt – sie konnte es nicht glauben und machte sich auf die Suche nach ihm. Das Buch erzählt, wie Shu Wen in einen Kampf zwischen Chinesen und Tibetern gerät, verletzt, von einer Nomadenfamilie aufgenommen und wieder aufgepäppelt wird. Sie zieht mit den Nomaden weiter und passt sich jeden Tag mehr ihrem Rhythmus an. Shu Wen hat nicht den Mut, in der Weite der tibetischen Landschaft die Suche nach ihrem Mann allein fortzusetzen. Irgendwann verliert sie den Überblick über die Zeit, die verstreicht. Sie weiß gar nicht, in welchem Jahr sie angekommen ist, als sie zum ersten Mal wieder Landsleute trifft, die ihr erzählen, was in der Zwischenzeit in China passiert ist.

Auch wenn das Buch Xinrans konventionell erzählt ist und besonders in der Beschreibung der Spiritualität der Nomaden oft nah am Kitsch baut: Die Art, wie ihre Heldin aus der Zeit fällt, wie sehr sich ihre persönlichen Erinnerungen von der offiziellen Geschichtsschreibung – dem erklärten Ziel Maos, den Tibetern Fortschritt zu bringen etwa – unterscheidet: Das erinnert daran, wie in China in den Achtzigerjahren plötzlich immer mehr Schriftstellerinnen den Plan betraten und wie wenig sie sich noch vom Befehl irritieren ließen, sozialistischen Realismus zu produzieren und ihrem Erziehungsauftrag zu folgen. Wie sie Texte über die romantische Liebe als Ausdruck von Individualität schrieben. Wie sie damit auch an die kurze Blüte der Literatur von Frauen nach der 4.-Mai-Bewegung 1919 anschlossen, in der es en vogue war, Romantiker und Melancholiker zu sein und das konfuzianische Rollenbild zu bekämpfen, nach dem die Frau außerhalb der Familie keine legitime Rolle hat.

Es gibt Autoren, die gehen davon aus, dass in den Achtzigerjahren in China auch deshalb so viele Frauen zu schreiben begannen, weil sie weniger mit Identitätskrisen zu kämpfen hatten als ihre männlichen Kollegen: In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung und abnehmender Staatsgewalt werden Intellektuelle unwichtiger, sind plötzlich nicht mehr auf historischer Mission, werden nicht mehr für die Stimme des Volkes oder Berater der Mächtigen gehalten. Da Privilegien wie diese nach der Gründung der Volksrepublik sowieso eher Männern vorbehalten waren, hätten Frauen unbefangener schreiben können.

Für diese These spricht, dass in den folgenden Jahren, seit den Neunzigerjahren bis heute, Chinas Schriftstellerinnen immer schneller davon abkamen, sich für die ganze Gesellschaft verantwortlich zu fühlen. Anstelle feministischer Botschaften oder programmatischer Romantik traten immer öfter Geschichten von modernen Frauen in der großen Stadt, offene Beschreibungen von ausschweifendem oder gleichgeschlechtlichem Sex. Diese Entwicklung sickerte in Deutschland höchstens minimal durch, indem die knalligen Bücher von Beauty-Schriftstellerinnen wie Mian Mian und Wei Hui übersetzt wurden.

Was leider bis heute kaum im Westen angekommen ist: Viele chinesische Schriftstellerinnen heute sind nicht nur von politisch engagierten Inhalten abgekommen, sondern auch von gradlinigen Erzählweisen. Sie probierten verschiedene Erzählperspektiven aus, verzichten zugunsten starker Stimmungen und Bilder auf einen klaren Plot und spielen mit der Vermischung von Erinnerung und Fantasie. Von Can Xue, ihrer düsteren Prosa voller hysterischer Schockelemente, weiß in Deutschland außerhalb einschlägiger akademischer Kreise kaum jemand. Und von Wang Anyi und Zhang Jie, den erfolgreichsten und interessantesten Autorinnen des Landes, ist zurzeit kein Buch in deutscher Übersetzung lieferbar.

Stattdessen setzt Deutschlands vorsichtige Verlagslandschaft in dürren Zeiten wie diesen immer mehr auf den kommerziellen Erfolg exotischer Geschichten aus Fernost. So auch der Aufbau Verlag: Mit „Die chinesische Geliebte“ von Hong Ying, einem Buch über die heiße, exotische Liebe eines Engländers zu einer Chinesin in den Dreißigerjahren, ist dem Verlag im letzten Jahr ein großer Coup gelungen. Er stand wochenlang in den Bestsellerlisten. Gleich wurde nachgelegt: Im Frühjahr folgte die Neuauflage eines Politpornos mit kitschigem Plot derselben Autorin, der das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit Schilderungen von wildem Gruppensex aufmöbelt. Und nun der dritte, der bislang erträglichste Roman der Autorin erschienen.

„Der Pfau weint“ ist aus der Sicht der erfolgreichen Wissenschaftlerin Liu Cui erzählt – einer modernen Pekinger Frau, die unabhängig von Geschlechterstereotypen lebt. Eines Tages schöpft sie den Verdacht, dass ihr Mann, der weit entfernt als Direktor am Dreischluchtenstaudamm arbeitet, eine Geliebte hat. Also fährt sie zum ersten Mal zu ihm. Wie es der Zufall will, ist sein Arbeitsplatz nicht weit entfernt von dem Dorf am Jangtse, in dem Liu Cui geboren wurde. Sie deckt auf: Hier wird die Bevölkerung im Namen ihres Mannes wegen der bevorstehenden Flutung zur Umsiedlung in höhere Regionen gezwungen und um das dafür vorgesehen Geld geprellt. Außerdem muss Liu Cui erfahren: In diesem Dorf machte sich einst ihr Vater an der Ermordung zweier Menschen schuldig. Auch wenn die Gesellschaftskritik in „Der Pfau weint“ wie fürs westliche Publikum gemacht daherkommt: Es ist beeindruckend, wie sich die Figuren trotz aller Hindernisse zu ihrer Vergangenheit vorkämpfen. Das ist für China nach wie vor ungewöhnlich.

Das bewegendste und dabei waghalsigste der drei Bücher ist jedoch das der jüngsten der drei Autorinnen, das von Xiaolu Guo. Ihr erster Roman „Stadt der Steine“ ist eine ästhetische Autobiografie – eine in China beliebte Form, zu der in letzter Zeit vor allem immer mehr Frauen greifen. Darin verarbeitet die Autorin ihre Kindheit, überhöht diese allerdings zur Fiktion. Erzählt wir aus der Sicht einer Ich-Erzählerin in Peking, die eines Tages einen getrockneten Aal zugeschickt bekommt – von einem unbekannten Absender aus ihrer weit entfernten Heimatstadt. Das löst bei ihr einen diskontinuierlichen, assoziativen und darum umso authentischeren Strom der Erinnerung aus.

Schon vor der Ankunft des Aals scheint die Ich-Erzählerin in einem Vakuum der Gefühle stecken geblieben zu sein. Sie lebt mit ihrem Liebhaber in der Erdgeschosswohnung eines hohen Apartmenthauses. Meist liegen sie zusammen im Bett, haben lasziven Sex, rauchen und fühlen sich schwer und unbeweglich. „Vielleicht hat das mit den vierundzwanzig Stockwerken über uns zu tun“, heißt es einmal, „mit der geballten Schwerkraft tausender Mitbewohner, die auf uns drückt.“ Eine bestrickende Metapher für das Leben der verlorenen Melancholiker in der argen Geschäftigkeit Chinas heute: „Sie kochen und kacken, vögeln und feiern, drücken ständig auf die Toilettenspülung, duschen, bohren, streiten, schlagen ihre Kinder … als würde die überschäumende Energie ihres Alltagslebens sich Schicht für Schicht über uns auftürmen.“

Es ist der Aal, der die Ich-Erzählerin und ihren Freund aus diesem Trott reißt. Die Rückblenden werden eingeläutet: „Ich weiß nicht mehr“, „Jetzt merke ich, dass meine Erinnerung mich immer wieder trügt“, „Wie konnte ich vergessen“ heißt es – und je unsicherer die Erzählerin scheint, desto plastischer brennen sich die Bilder ein. Nach und nach fällt ihr wieder ein, wie sie als einsames Kind in einem „salzverkrusteten“, „stillen“ und „kompakten“ Fischerdorf groß geworden ist. Ihr Vater und ihre Mutter verließen das Dorf so früh, dass sie sich nicht mehr an sie erinnern kann. Sie wuchs bei ihren Großeltern auf, die einander verachteten.

Je mehr sich die Erzählerin und ihr Freund sich mit dem Aal beschäftigen und immer neue Arten seiner Zubereitung ersinnen, desto deutlicher schält sich heraus, warum die Ich-Erzählerin so lang nicht an ihre Heimatstadt gedacht hat: Als sie sieben Jahre alt war, wurde sie von einem Mann im Dorf tagelang eingesperrt und vergewaltigt. Erst als diese Geschichte raus ist, die Erzählerin schwanger wird und der Aal endlich verzehrt ist, ist der zähe Stillstand beendet.

Nun könnte man meinen, dieses Buch sei Konfessionsliteratur und nur geschrieben, um aufzuarbeiten, durchzuarbeiten, wegzuarbeiten – das ist vielleicht zum Teil der Fall, aber nicht nur. Seine radikale Subjektivität, seine freie Erzählstruktur, die Schilderungen von Sexualität und Gewalt, seine Körperlichkeit: All das macht es zu einem Roman, wie es in China noch nicht viele gibt. Es ist das modernste und interessanteste Buch einer chinesischen Autorin, das in letzter Zeit ins Deutsche übersetzt wurde. Es wäre schön, wenn sich in Zukunft mehr deutsche Verlage zu Projekten wie diesen aufraffen könnten.

Xinran: „Himmelsbegräbnis“. Aus dem Englischen von Sigrid Langhauser. Droemer Verlag, München 2005, 175 Seiten, 18 Euro Hong Ying: „Der Pfau weint“. Aus dem Chinesischen von Karin Hasselblatt. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 247 Seiten, 18,90 EuroXiaolu Guo: „Stadt der Steine“. Aus dem Englischen von Anne Rademacher. Knaus Verlag, München 2005, 254 Seiten, 18 Euro