: Unbezahlbarer Schmuddelkiez
VERDRÄNGUNG In Kreuzberg räumt die Polizei trotz heftiger Proteste die Wohnung der Familie Gülbol – eine von jährlich ca. 3.000 Räumungen in Berlin, wo die Mieten explodieren
ALI GÜLBOL, GERÄUMTER ALTMIETER
AUS BERLIN MARTIN RANK
Als es am Donnerstag früh um sieben langsam hell wird, herrscht Ausnahmezustand in der Lausitzer Straße in Berlin-Kreuzberg. Die Polizei hat die Straße mit einem Großaufgebot von beiden Seiten abgesperrt. Eine Wohnung soll geräumt werden. Alltag in Berlin, einer Stadt, in der die Mieten für Neuverträge im letzten Jahr um fast 14 Prozent gestiegen sind und wo 2012 nach Schätzungen von Mieterverbänden rund 3.000 Wohnungen zwangsgeräumt wurden.
Aber diese Räumung ist anders. 500 Menschen haben sich auf den eiskalten Boden gesetzt, sie wollen die Gerichtsvollzieherin nicht durchlassen. Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“, zu dem 20 Kiezinitiativen gehören, hat dazu aufgerufen, die Räumung der türkischstämmigen Familie Gülbol zu blockieren.
Wie die Gülbols werden in Berlin immer mehr Bewohner durch explodierende Mieten aus den gefragten Innenstadtlagen herausgedrängt. Kreuzberg hat sich vom Schmuddelkiez zum teuersten Bezirk bei Neuvermietungen entwickelt (siehe Grafik). Das spüren jene am meisten, die hier aufgewachsen sind, vor allem einkommensschwache migrantische Familien wie die von Ali Gülbol, die in der Lausitzer Straße bislang zu fünft auf 122 Quadratmetern gelebt hat. Eine erste Zwangsräumung der Familie war im Oktober letzten Jahres gescheitert, weil 100 Unterstützer den Weg der Gerichtsvollzieherin blockiert hatten.
„Wir müssen der Bitte nach Amtshilfe nachkommen“, sagte nun ein Polizeisprecher vor Ort. Diese Amtshilfe bestand darin, dass sich die Polizei um sechs Uhr in der früh über einen Nebeneingang Zugang zum Haus der Gülbols verschaffte.
Die Blockade in der Lausitzer Straße lief deshalb diesmal ins Leere: Die Gerichtsvollzieherin war längst im Haus, als sich die Gentrifizierungsgegner davor versammelten. „Die Polizei ist gewaltsam in das Haus gekommen“, sagt Ali Gülbol. „Sie hat den Zaun aufgeschnitten und eine Tür aufgebrochen“. Die Gerichtsvollzieherin sei von Anfang an dabei gewesen. Sie habe eine Polizeiweste getragen, um von den Blockierern nicht erkannt zu werden, sagt Gülbol. Das bestätigt auch der Linken-Abgeordnete Hakan Tas, der zusammen mit anderen Politikern bei den Gülbols im Haus war. Es könnte sich um Missbrauch von Amtsabzeichen handeln, glaubt Tas. Er hält die Vorgehensweise der Polizei für unrechtmäßig und will die Sache im Berliner Parlament zur Sprache bringen.
Um fünf Minuten vor neun Uhr verlangt die Gerichtsvollzieherin den Schlüssel von den Gülbols, der Familienvater übergibt ihn ohne Widerstand, die Blockierer draußen bekommen nichts davon mit.
Die Polizei erklärt später, einzelne Blockierer hätten Steine geworfen, zehn Polizisten seien verletzt worden. Die Beamten setzten auf der Straße Pfefferspray ein, nehmen 15 Personen fest. „Völlig übertrieben“ nennt die Grünen-Fraktionssprecherin Paula Riester später den Großeinsatz.
Seit Jahren hatte sich die Familie mit dem Hausbesitzer und Immobilienunternehmer André Franell aus Berlin über Mieterhöhungen, Mietrückstände und zu späte Zahlung von Nachforderungen gestritten. Nach langem juristischen Tauziehen entscheidet schließlich ein Gericht, dass Franell die Wohnung räumen lassen darf – obwohl Gülbol nach eigenen Angaben alle Mietschulden beglichen hat. „In Kreuzberg ist es unmöglich, zu diesem Preis noch einmal eine solche Wohnung zu finden“, sagt er.