„Ich hätte Mord in Kauf genommen“

„Wir haben die Opfer der Nazis nicht weinen lassen über ihr Schicksal. Wir haben ihnen gesagt: Ihr wollt weinen?Gut, ihr könnt weinen – aber dann kämpft auch“

INTERVIEW THILO KNOTT

Zwei Pudel und ein Dackel übernehmen die Begrüßung. „Maman“, ruft Lida, die Tochter von Beate Klarsfeld, und scheucht die Hunde weg. Beate und Serge Klarsfeld haben ihr Büro im 8. Arrondissement von Paris. Rue La Boitié 32, 5. Stock. Das ist an der Ecke zum Boulevard Hausmann, wo auch die Galerie Lafayette residiert. Fünf Minuten zur Champs-Élysées. Jetzt kommt Beate Klarsfeld. Sie lacht. „Die Hunde tun nichts“, sagt die 66-Jährige. Sie holt Saft und Wasser, bittet in einen kleinen Salon und setzt sich vor einen Marmorkamin. An der Wand hängen Auszeichnungen. Die Urkunde zur Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion beispielsweise.

Im Zimmer gegenüber sitzt Serge Klarsfeld hinter seinem Schreibtisch. Davor stehen zwei abgewetzte beige Ledersessel. Er grüßt kurz durch die offen stehende Tür und telefoniert weiter. Aus einem Nebenzimmer dringt Vogelgezwitscher. „Ach, Arnos Handy“, sagt Beate Klarsfeld, nachdem sie zunächst überlegt hatte, wo die Vögel herkommen könnten. Alle sind sie da. Beate und Serge Klarsfeld. Die Kinder. Arno, wie sein Vater Rechtsanwalt. Lida, die ebenfalls für die Organisation „Verein der Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ arbeitet. Die Klarsfelds sind ein Familienunternehmen.

taz: Frau Klarsfeld, Beruf Nazi-Jägerin. Schmeichelt Ihnen dieser Begriff?

Beate Klarsfeld: Den Begriff hat man damals in den 60ern erfunden. Es gab ein paar Fälle, wo wir tatsächlich gejagt haben. Josef Mengele und Klaus Barbie in Südamerika, Alois Brunner in Syrien. Mein Gott, wahrscheinlich habe auch ich zum Begriff Nazi-Jäger beigetragen.

Warum so zurückhaltend?

Nachdem ich Kanzler Kurt Georg Kiesinger geohrfeigt hatte, war der Begriff Nazi-Jäger sehr negativ besetzt.

Inwiefern?

Es gab im Allgemeinen nie Juden, die nach dem Krieg versucht haben, sich zu rächen und ihre Henker aufzuspüren. Im Gegenteil. In Deutschland wollte man sich mit dem Etikett „Nazi-Jäger“ einreden: Ja, die werden gejagt. Die Hauptverantwortlichen saßen aber in Deutschland. Und waren Senatspräsidenten oder Bürgermeister.

Nach dem Tod Simon Wiesenthals werden Sie als „die einzige noch lebende Nazi-Jägerin“ tituliert.

Stand das irgendwo?

Ja. Jetzt stolz?

Naja, Wiesenthal hat die Lager überlebt. Er hat sich deshalb auf diejenigen konzentriert, die in den Lagern gefoltert und getötet haben. Aber ein Kiesinger, der immerhin für die Nazipropaganda im In- und Ausland verantwortlich war, der wusste, was in den Lagern vor sich ging, da war Wiesenthal auch nicht bereit zu helfen. Das war nicht seine Art. Und Nazi-Jäger? Wiesenthal? Er war nirgendwo in Südamerika und hat demonstriert. Er hat viele Pressekonferenzen gemacht, sicher, das war auch wichtig. Da hatte er Erfolg. Aber jagen muss man schon da, wo die Leute sitzen, oder?

Beate Klarsfeld sagt das nicht vorwurfsvoll. Sie erzählt. Nüchtern. Nicht emotional, nur dokumentierend. Wie sie all die Geschichten über die Nazis erzählt, als lese sie aus einem Schulbuch vor. 12. Klasse, Leistungskurs Geschichte, deutsche Vergangenheitsbewältigung.

Kapitel I:

Kurt Georg Kiesinger. Wird 1966 Kanzler. Klarsfeld schreibt kritische Aufsätze in der linksliberalen Pariser Zeitschrift Combat. Sie will aufklären, warnt vor Kiesinger, dem ehemaligen Nazi im Propagandaministerium. Wegen der kritischen Artikel fliegt sie ein Jahr später aus dem deutsch-französischen Jugendwerk in Paris. Sie stellt die Dokumentation „Die Wahrheit über Kurt Georg Kiesinger“ zusammen, fährt nach Deutschland und organisiert eine Kampagne. Im Bonner Bundestag ruft sie „Kiesinger, Nazi, abtreten!“ Und fährt 1968 nach Berlin zum CDU-Parteitag. Dort legt sie einen falschen Presseausweis vor und gelangt in den Saal. Einen Stenoblock in der Hand, schleicht sie sich an Kiesinger heran. Ein Saalordner hatte ihr gerade noch gesagt: „Nun beeilen Sie sich mal ein bisschen.“ Dann knallt es. Ohrfeige. Festnahme. Prozess. Sie wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Später wird die Strafe auf vier Jahre mit Bewährung reduziert.

Kapitel II:

Kurt Lischka. Gestapo-Chef zuerst in Köln, später in Paris. Beteiligt an Massendeportationen von Juden. Nach dem Krieg lebt er unbehelligt in Köln. Lischka wird 1950 in Paris in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kann von der Bundesregierung wegen des „Überleitungsvertrags“ zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten nicht ausgeliefert werden. Serge und Beate Klarsfeld wollen Lischka 1971 gewaltsam nach Paris bringen. Aber die Entführung scheitert. 1980 kommt es in Köln doch zum Prozess gegen Lischka. Er wird zu zehn Jahren Haft verurteilt wegen Beihilfe zum Mord an 76.000 französischen Juden.

Kapitel III:

Klaus Barbie alias Klaus Altmann. Gestapo-Chef von Lyon. Wie Lischka ist er beteiligt an der Deportation von französischen Juden. Nach dem Krieg setzt er sich nach Bolivien ab. Beate Klarsfeld fliegt 1972 nach La Paz, kettet sich mit der Jüdin Itta Halaunbrenner an eine Bank vor Barbies Haus, um für dessen Auslieferung zu demonstrieren. Erst zwölf Jahre später wird Barbie ausgeliefert und in Frankreich 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Kapitel IV:

Alois Brunner. SS-Obersturmführer, Eichmann-Stellvertreter. Er gilt als verantwortlich für die Ermordung von 130.000 Juden in deutschen Konzentrationslagern. Brunner ließ auch Serge Klarsfelds Vater Arno verhaften, der in Auschwitz ums Leben kam. Nach dem Krieg taucht Brunner in Syrien unter. Dort ist er Schützling des damaligen syrischen Staatschefs Hafis al-Assad. Beate Klarsfeld fliegt mehrmals nach Damaskus, 1974 und 1991, fordert die Auslieferung Brunners. Sie wird ausgewiesen. Brunner wird 2001 in Paris wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt – in Abwesenheit. Beate Klarsfeld glaubt: „Brunner ist tot.“

Den Bundeskanzler zu ohrfeigen war ein Skandal. Warum eigentlich eine Ohrfeige?

Serge und ich wussten, dass sich in Deutschland um die Nazi-Vergangenheit Kiesingers niemand geschert hat. Deshalb musste es eine symbolische Aktion sein. Es musste eine Ohrfeige sein. Hätte ich zu anderen Mitteln gegriffen, hätte es nie diese historische Wirkung gehabt.

Zu anderen Mitteln?

Hätte ich, ganz krass gesagt, Kiesinger getötet. Alle hätten dann gesagt: Racheakt! Nur die Ohrfeige hat so die ganze Jugend mobilisiert. Nur so war er dann der Nazi-Kanzler.

Bei Kurt Lischka war es mit einer Ohrfeige nicht mehr getan: Sie wollten ihn entführen!

Es war auch ein ganz anderer Fall.

Inwiefern?

Kiesinger konnten wir nicht vor Gericht bringen. Unmöglich. Lischka schon. Wir hatten da ein Problem vor uns: Hier in Frankreich lebten die Angehörigen der Deportierten, in Deutschland liefen die Nazis frei herum – konnten aber aufgrund eines geltenden Abkommens nicht ausgeliefert werden.

Also war eine Entführung gerechtfertigt?

Wir sagten uns: Wir müssen ihn entführen, nach Paris bringen und vor Gericht stellen. Ich hatte alles ausgekundschaftet: Wo er wohnt, wann er zur Arbeit geht, wann er zum Mittagessen nach Hause kommt. Aber die Gruppe, die wir angeheuert haben, war dazu nicht in der Lage. Das fing schon an mit dem Auto, das wir angemietet hatten.

Wieso?

Es war ein Sport-Coupé und kein Viertürer, was eine Entführung schwierig macht. Beim Versuch, Lischka zu entführen, kam dann auch noch ein Bahnpolizist die Straße entlang und ging dazwischen.

Es ist kolportiert, dass Sie im Fall Lischka kurz überlegt hatten, einen Auftragsmörder anzuheuern.

Nö. Serge hat das mal gemacht.

Wie, Ihr Mann hat das gemacht?

Als die Sache mit Lischka nicht weiterging, fuhr Serge nach Köln, hat ihm aufgelauert und ihm mit ’ner Pistole gedroht.

Mit einer Pistole?

Die war aber nicht geladen.

Ach so.

Nur: Das konnte Lischka nicht wissen. Er hatte fürchterliche Angst, ist fast umgekippt. Serge hat danach einen Brief an die Kölner Staatsanwaltschaft geschrieben, in dem stand: Sehen Sie, wenn Sie das Verfahren nicht einleiten, dann wird es einen Überlebenden aus dem KZ geben, der dann auch abdrückt. Dann wird es zu einem Racheakt kommen. Es war symbolisch gemeint – aber immerhin. Hätte die Justiz eines Tages gesagt, sie wird das Verfahren nicht eröffnen, wer weiß, was dann geschehen wäre. Aber wir bekamen den Prozess.

Sie hätten auch Mord für Ihr Anliegen in Kauf genommen.

Ja. Da hätten sich welche gefunden. Wir konnten es einfach nicht lassen. Wir lebten ja ständig mit den Opfern. Die Kinder, die ihre Eltern bei der Deportation verloren hatten. Das Trauma. Ich meine, man kann dann auch Mord nicht ausschließen. Es war bei den Überlebenden ja kein Racheakt, es ging immer um Gerechtigkeit.

Ist Mord gerecht?

Ja. Aber von den Opfern.

Ist da nicht eine Grenze überschritten?

Das wäre die Arbeit der Opfer gewesen, da müsste man die mal fragen.

Sie hätten Lischka nicht getötet?

Ich nicht, auf keinen Fall.

Im Ohrfeigen-Prozess sagte Beate Klarsfeld einmal: „Ich habe nicht studiert, ich bin eine einfache Bürgerin. Aber eines Tages habe ich gefühlt, dass ich dies für Deutschland und um die Ehre Deutschlands zu retten tun müsste.“ Eines Tages, das war, nachdem sie Serge Klarsfeld in der Pariser Metro kennen gelernt hat. 1960, sie war Au-pair. Sie wollte Deutschland verlassen. Berlin. Das Elternhaus. Der Vater, im Krieg Soldat der Wehrmacht, hatte zu trinken begonnen. Paris also, alleine, mit 21. Da traf sie Serge Klarsfeld, mit seiner jüdischen Familie und deren Geschichte. Er hatte mit ansehen müssen, wie sein Vater Arno von den Nazis festgenommen wurde. Der Vater kam nach Auschwitz und wurde ermordet. Viele Franzosen hätten ihr die deutsche Vergangenheit vorgeworfen, erzählt Beate Klarsfeld. Und für ihren Mann, weiß sie heute, sei es wichtig gewesen, dass es auch Deutsche gab wie die Geschwister Scholl. „Sonst hätte er sich mit Deutschen wohl überhaupt nicht befasst“, sagt sie. Und schiebt nach: „Wahrscheinlich auch mit mir nicht.“

Beate Klarsfeld erzählt von ihrer Trauung. Wie der Pfarrer gesagt hat: „Sie sind eine deutsch-französische Ehe, Sie müssen daraus etwas machen!“ Das Jawort, eine Entscheidung für ein Leben, das auch eine Liebeserklärung an Serge Klarsfeld werden sollte.

Frau Klarsfeld, was mussten Sie aufgeben für das Leben, zu dem Sie sich entschlossen haben?

Ach, nichts. Wir haben ein gefestigtes Familienleben. Die Kinder sind beide Rechtsanwälte und helfen uns in der Organisation. Das erste Geschenk, das Serge mir machte, war eine Katze. Wir sind ständig von Haustieren umgeben. Wir sind nicht mondän. Und die Familie gibt uns Halt. Und man darf nicht bitter werden, wissen Sie.

Inwiefern bitter?

Die RAF entsprang reiner Bitterkeit.

Wie meinen Sie das?

Die waren nur selbstbezogen. Und gingen so weit, Unschuldige zu töten. Es waren allesamt Unschuldige. Die haben den Überblick verloren. Es war wahllos.

Hat Ihnen die Entscheidung, ein Leben lang Nazis zu verfolgen, Feinde gebracht?

Damit mussten wir rechnen. Nach der Kiesinger-Ohrfeige war ich die Nestbeschmutzerin. Aber ich weiß, was ich in meinem Leben erledigt habe. Und das genügt schon.

War es Genugtuung, als Klaus Barbie ausgeliefert wurde?

Genugtuung war’s. Vor allem im Fall von Kurt Lischka.

Warum gerade da?

Weil es die jüdischen Opfer selbst gemacht haben. Der Prozess in Köln war kein Prozess der deutschen Staatsanwaltschaft. Die Opfer von Lischka wollten den Prozess. Und das ist etwas Seltenes, weil sich die Opfer normalerweise nicht trauen. Es gab Prozesse, da sind die jüdischen Opfer von der Verteidigung lächerlich gemacht worden. Wir aber haben eine Gruppe zusammenbekommen. Ja, wir haben sie nicht weinen lassen über ihr Schicksal. Wir haben ihnen gesagt: Ihr wollt weinen? Gut, ihr könnt weinen – aber dann kämpft auch.

Macht ein solcher Lebensentwurf einsam?

Ich hatte mit Marlene Dietrich ab und zu telefoniert. Die mangelnde Anerkennung in Deutschland, das hat sie sehr verletzt. Man muss sich das mal vorstellen: in Deutschland ausgepfiffen, in Israel begeistert gefeiert.

Beate Klarsfeld hat in Israel die Tapferkeitsmedaille der Gettokämpfer erhalten, wurde sogar empfangen von der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir. Sie erzählt, wie ihr ein paar Jahre später Menachem Begin, ebenfalls israelischer Ministerpräsident, gesagt habe, sie sei die erste Deutsche, der er die Hand schüttele. Klarsfeld holt Kaffee und bringt einen kleinen gelben Kartonordner mit. Kopien und Briefe sind darin sortiert. Glückwünsche des Außenministers. Zum 60. Geburtstag. Und zum 65. Geburtstag. Unterschrift: Joschka Fischer. „Zum Geburtstag schickt er mir Grüße“, sie legt die beiden Briefe auf den Tisch, „aber sonst?“ Sie holt ein kopiertes Blatt Papier aus dem Ordner. „Richtlinien für die Ordensverleihung“, ist die Überschrift. Sie wurde für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Sie wurde abgelehnt. Begründung: Sie würde den Richtlinien nicht entsprechen. Auch den Brief mit der Ablehnung hat sie einsortiert.

Und heute, Frau Klarsfeld, würden Sie der Jugend zu einem solchen Leben raten?

Schwierig.

Warum schwierig?

Leidenschaften kann man sich nicht basteln.

Sie meinen, es ist heute nicht mehr die Zeit für Leidenschaften?

Die Tatsache, dass man sich gegen das Nazi-Deutschland der Vätergeneration auflehnte, das war einfach ein Erbe. Damit mussten wir, die jüngere Generation, fertig werden.

Und heute gibt es kein Erbe mehr, kein großes gesellschaftliches Thema?

Ich sehe keines, das die Jugendlichen heute mobilisieren könnte. Es gibt jetzt wieder eine große Koalition in Deutschland – aber keiner ist heute gegen die große Koalition. Ideale, wo gibt’s die noch?

Sie haben keine Antwort?

Beim Papstbesuch vielleicht. Da sind sie zumindest völlig losgelassen. Aber ich habe da auch meine Zweifel. Engagieren die sich nach den Prinzipien des katholischen Glaubens? Für Arme? Für die Dritte Welt?

Sie klingen nicht sehr überzeugt.

Mir scheint, in Massen sind die Jugendlichen irgendwie glücklicher. Vielleicht ist auch ihr Alltag recht grau.

Ein düsteres Bild.

Ja.

Beate Klarsfeld steht auf und kommt mit einem Buch zurück. Es ist ihre Autobiografie. Auf dem Cover: ein Foto von ihr, im Rollkragenpullover. Der Titel lautet: „Wherever they may be!“ Darunter ist ein Hakenkreuz gelegt. Klarsfelds Autobiografie ist 1972 erschienen – in den USA. Nicht in Frankreich, nicht in Deutschland. Das Buch trägt eine Widmung: „With my best regards, Beate Klarsfeld. 22. Januar 1976“. Sie habe das mal in Kanada signiert, erinnert sie sich. „Ich habe ein paar Exemplare über Amazon zurückgekauft“, sagt sie, „man bekommt sie ja nicht mehr.“ Das Buch ist seit Jahren vergriffen.