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Archiv-Artikel

Lesen als Therapie

PERSISCHES FEST Den Abschluss des Festivals „Happy Revolution – views on Iran. 30 years later“ im Ballhaus Naunynstraße bildet eine Lesung mit Frauenliteratur

Auf drei weißen quadratischen Würfeln sitzen drei elegant gekleidete Damen, die Beine übereinander geschlagen, jede jeweils ein Buch in der Hand. Ihre mächtigen Stimmen füllen die Bühne im Ballhaus Naunynstraße. Das Finale des Festivals „Happy Revolution – views on Iran. 30 years later“ endet mit dem „Shab-e Yaldaa“, einem altpersischen Fest, das seit mehr als 2.000 Jahren gefeiert wird, um einander Gedichte und Geschichten vorzutragen. Zum diesjährigen Feuerfest, wie die Iraner es auch nennen, haben sich die drei Schauspielerinnen Marjam Azemoun, Pegah Ferydoni und Sesede Terziyan eingefunden, um in einer szenischen Lesung Texte iranischer Schriftstellerinnen zu präsentieren.

Und schon bei der ersten Szene landet man mitten in der Melancholie einer unterdrückten Gesellschaft und der tristen politischen Realität der Islamischen Republik Iran. Dort, wo man nur eingeschränkt publizieren darf und Frauen seit 30 Jahren vergeblich für Freiheit und Gleichberechtigung kämpfen. „Ich musterte sorgfältig meine Umgebung, um den Zweck meiner Existenz innerhalb dieser ergründen. Weshalb meine Finalität in meiner Umgebung liegen könnte, ist eine Frage, die ich nicht erklären kann. Ich wurde so geboren.“ So beschreibt die iranische Schriftstellerin Sepideh Shamlou in ihrem Essay „Ich war ein Mensch“ ihre Annäherung an das männliche Geschlecht. Es geht um Liebe, sexuelle Wünsche – um Tabus, die in der iranischen Gesellschaft nicht gebrochen werden dürfen. Denn in der „reinen Literatur“ darf man sich nicht küssen, einander nichts Liebevolles sagen und die Frauen schlafen mit Kopftuch. Für die Vortragende Marjam Azemoun ist dies „ein unglaubliches Moment der persischen Literatur“. Azemoun selbst, aufgewachsen in Deutschland, hat ihren Vater verloren, der unter Schah Pahlavi hingerichtet wurde. Ihre Familie musste aus dem Iran fliehen. In vielen Texten, die unter dem Eindruck der Zensur entstehen, geht es darum, zwischen den Zeilen zu lesen. So sind Kunst und Literatur die einzigen Felder, in denen oppositionelle Gedanken öffentlich gemacht werden können. Eindrucksvoll ist auch die Darbietung der Schauspielerin Pegah Ferydoni, 26, die in Teheran geboren wurde und durch die TV-Serie „Türkisch für Anfänger“ bekannt wurde. Allein sitzt sie auf dem weißen Würfel, im Hintergrund erscheint das Bild der schönen iranischen Autorin Forough Farrokhzad.

„Wie kann man einem Menschen sagen, dass er tot ist, dass er nie gelebt hat?“, ruft sie anklagend. „Mir ist so kalt, als würde mir nie wieder warm.“ Es geht um Identität und Gefühle, um ein verirrtes Leben in der iranischen Gesellschaft. Farrokhzad, die wohl größte Dichterin der modernen persischen Frauenliteratur, starb 1967 in Teheran mit nur 32 Jahren bei einem Autounfall. In ihren Gedichten wie in ihrem Leben lehnt sie sich gegen bürgerliche Konventionen auf und spricht offen über Sexualität und ihre Gefühle. Schreiben als Therapie.

Einen Einblick in die Geschichte der Frauen und ihre politische Bedeutung im Iran erhält man durch den Text der Journalistin und Islam-Expertin Katayun Amirpour, gelesen von Marjam Azemoun. Sie erzählt von den unermüdlichen Kämpfen der Frauen im Iran gegen das System. Die Demonstrationen der mutigen Frauen nur wenige Monate nach der islamischen Revolution 1979 seien der erste subversive Akt gegen die neue Regierung gewesen. Und nach dem Wahlsieg von Amtsinhaber Mahmud Ahmadineschad im Juni gingen sie wieder wie vor 30 Jahren auf die Straße und riefen: „Wo ist meine Stimme“, „Kein Krieg, keine Lügen, Freiheit“ oder „Frauen = Männer“.

So wie die Frauen auf die Straße gehen im unermüdlichen Kampf für Gleichberechtigung, so wird auch die Literatur durch ihren politischen Ideenschmuggel weiter die soziale Bewegung im Iran vorantreiben. Das hat dieser Abend gezeigt. SIMONE JUNG