: Trödelmöbel und Tütenlampen
TREND Bis vor Kurzem galt Neukölln als aufregend, inzwischen steht der Stadtteil in den meisten Reiseführern. Wird er nun von Touristen zertrampelt? Ein Realitycheck
VON SUSANNE MESSMER
Das Erste, was mir auffällt, ist ein Café, wie es auch in Prenzlauer Berg stehen könnte. Es heißt Schaumschläger, wirkt ziemlich mintgrün, man kann sich mit einem Latte ins Schaufenster setzen und auf die Tankstelle gegenüber starren. Es ist also wahr, denke ich: Ich habe den Trend verpennt.
Ja, immer mehr Freunde aus Prenzlauer Berg und Kreuzberg sind in den letzten Jahren nach Neukölln gezogen. Die zitty teilte mit: „Neukölln rockt“ – und machte dort die neuen Hipster aus. Dass aber Neukölln inzwischen in den meisten Reiseführern auftaucht? Dass der „Lonely Planet“ meint, Neukölln sei das „Lower Eastside aus dem New York der Achtziger“? Und der neue „Berlin-Merian“ behauptet, Neukölln sei das wichtigste „Laboratorium“ Berlins, dieser „Kreativhauptstadt“ des „Alles ist möglich“?
Ich bin überrumpelt. Ich war noch niemals in Neukölln! Also: Ich war zweimal im Reuterkiez und habe zwei Abende im Heimathafen verbracht. Und nun soll es schon wieder vorbei sein? Nun kommen die Touristen und trampeln alles platt?
Es bleibt nur der Realitycheck. Ich tauche in die Hobrechtstraße ein. Es ist ein sonniger Winternachmittag, aber voll ist es hier eher nicht. Gleich hinter der Weserstraße befindet sich ein Bioladen, der Sozialpreise für Arme anbietet. Links leuchtet ein neuer Turnschuhladen einsam vor sich hin – die Inhaber, war zu lesen, mussten nach der Eröffnung siebenmal hasserfüllte Sprüche auf den Wänden überstreichen.
Ein paar Meter weiter der erste Laden, der Reiseführerredakteure veranlasst haben mag, solche Sätze zu gestatten: „Extravagante Unterwäsche und Ohrringe aus Kronkorken: Immer mehr Kreative zieht es nach Neukölln.“ Oder: „Der Nachmittag gehört den Galerien im Reuterkiez.“
Das Problem ist nur: Bei JR Sewing gibt es vor allem Shirts mit lustigen Sprüchen, wie man sie auch beim Internet-Bastelladen Dawanda shoppen kann. An diesem Nachmittag werde ich nur noch eine Galerie mit flauschiger Fotokunst finden – und einen schicken Laden, der Salatbesteck aus Bambus verkauft. Ein Galerienviertel habe ich mir anders vorgestellt.
Eher eine nette Nische
Nicht weit vom JR Sewing befindet sich einer von drei Buchläden im Kiez: die Buchkönigin. Nina Wehner, eine hübsche Frau mit wilden Locken, muss laut lachen, als ich die expressionistischen Adjektive vorlese, die Reiseführer auf ihren Kiez regnen lassen: „cool“, „experimentierfreudig“ und „verrückt“ heißt es da, „aufregend“, „skandalumwittert“, ja „rauschhaft“ und „ebenso spannend wie spannungsgeladen“. Für Nina Wehner fühlt es sich hier weiterhin wie eine nette Nische an. Und eher so, als hätten sich die Wogen geglättet.
„Die Mischung stimmt noch“, sagt sie und erzählt, wie sich die Alten und Neuen zunehmend arrangieren – zum Beispiel die beiden Friseure schräg gegenüber, die sich kollegial den Föhn leihen, obwohl ihre Klientel unterschiedlicher nicht sein könnte. Nina Wehner weiß, dass im Stadtteil Neukölln nach wie vor jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat und jeder dritte keinen Job – und sie hofft, dass sich die Alteingesessenen nicht so schnell verdrängen lassen wie im Prenzlauer Berg der Nachwendezeit.
Aber das ist eine zweite Geschichte. Ich möchte wissen: Wie steht Wehner zu den Touristen? „Die helfen mir übers Sommerloch“, sagt sie. Und, mit einem strahlenden Lächeln: „Ich brauche nicht verreisen. Die Welt kommt zu mir.“
Ich verlasse die Buchkönigin, laufe die Hobrechtstraße hoch. Kein Tourist, aber halbvolle Bars mit Trödelmöbeln und angekokelten Tütenlampen.
Laufe die Friedelstraße runter, kein Tourist, aber Bars mit Trödelmöbeln und Tütenlampen.
Ich sehe junge und alte Leute, Eltern mit Kindern, Frauen mit Kopftüchern und Schlumpfmützen. Ich passiere einen türkischen Anwalt, einen türkischen Bildungsverein und ein Antiquitätengeschäft. Drinnen gibt es Danish Design zu kleinen Preisen, die jungen Verkäufer sprechen über Kapitalismuskritik.
Allmählich wird es dunkel. Ich gehe die Weserstraße runter bis zum Fuchs & Elster, einer wirklich schönen Bar mit Trödelmöbeln und Tütenlampen, deren Besitzer keinen Eintrag beim „Lonely Planet“ wünschen (s. Text links). Ich bestelle Kaffee, suche mir einen freien Platz und höre den Sitznachbarinnen dabei zu, wie sie sich über ihren Skiurlaub in der Schweiz unterhalten. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Wie kann es hier, in dieser neuen Niedlichkeit, je „skandalumwittert“ und „rauschhaft“ gewesen sein? Und falls doch: Was haben die Touristen damit zu tun, die doch gar nicht hier sind, sondern sich offenbar nach wie vor lieber in der Schlesischen und der Torstraße tummeln? Ich schlage mich weiter Richtung Südosten. Je weiter die Weserstraße von Kreuzberg wegführt, desto seltener werden die Bars mit den Trödelmöbeln. Stattdessen muss ich vorbei am Campus Rütli, der daran erinnert, wie „skandalumwittert“ Neukölln wirklich bis vor Kurzem war. An der Ecke meine erste „Gang“ – das heißt, eine Handvoll zwölfjähriger Jungs mit dunklen Haaren, die kichernd auf das Display eines Smartphones gucken und sich nicht um Passanten scheren. Die Fragen hören nicht auf: Sind hier so wenige betrunkene Touristen, weil es Winter ist? Weil es noch zu früh am Abend ist? Sind den Touristen schlicht die Wege zu lang? Und wenn die Reiseführer schon so übertreiben mit ihrem „cool“ und „aufregend“ – warum kommen dann erst recht keine?
Ich laufe vor bis zum Ä und zum Tier, einer alten und einer neuen Kneipe, aber da ist auch noch nicht viel los, und weil es hier unten so gut wie keine Restaurants mehr gibt, beschließe ich zurückzulaufen zu einem Italiener – mit Trödelmöbeln und Tütenlampen zwar, aber immerhin steht ein Risotto mit Wurst und Löwenzahn auf der Karte. Das Risotto ist lecker mit Fenchelsamen parfümiert.
Es ist spät genug geworden, im Ä spielt eine Band. Es handelt sich, das verrät der Zettel an der Tür, um ein „multinationales, alternatives Bluegrass-Trio“ namens Acero Rojo – kurz, die drei machen ziemlich konventionelle Musik mit Kontrabass, Gitarre und schüchternem Gesang.
Sehr, sehr junge Leute
Im übervollen Raum sitzen sehr, sehr junge Leute. Niemand wirkt wie ein Tourist. Die Leute machen sofort sehr rücksichtsvoll „pssssssst“, wenn das Geplapper die Musik zu übertönen droht. Ich fühle mich an eine Studentenkneipe in Marburg oder Freiburg erinnert. Neben mir sitzt eine junge Frau mit Rastas, Ringelpulli und roten Wangen.
Die Frau stellt sich als Julia vor, sie kommt aus Gotha und studiert im zweiten Semester Anthropologie. Während unseres Gesprächs nippt sie vier Mal an ihrer Bierflasche. Sie geht gern in Neukölln aus, erzählt sie, aber sie wohnt im Wedding, denn ein WG-Zimmer kann sie sich hier nicht leisten. Auch Julia frage ich, was sie von jenen Adjektiven in den Reiseführern hält. „Rauschhaft?, lacht auch sie. Julia findet es gemütlich hier. Und Furcht vor Touristen hat sie auch keine.
Es geht auf Mitternacht zu, als ich zum vierten Mal das Fuchs & Elster passiere. Touristen? Eher nicht. Es sieht kuschlig aus in der Kneipe. Noch immer ist ein Tisch frei.