: Unbehelligt und finanziell versorgt
Sozialgericht entscheidet heute, ob ein ehemaliger SS-Wachmann des Konzentrationslagers Neuengamme weiterhin Kriegsversehrtenrente erhält. Walter F. lebt unbestraft in Hamburg-Lohbrügge und hat seit 1948 staatliche Stütze kassiert
von Elke Spanner
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat Walter F. ein unauffälliges Leben geführt. Mit seiner Ehefrau wohnt er in einem Reihenhaus in Lohbrügge, seinen Lebensunterhalt hat er als Verkäufer in einem Kaufhaus und mit einer Kriegsversehrtenrente finanziert. Seit 1948 hat der heute 83-Jährige eine monatliche Zusatzrente dafür bekommen, dass er 1944 beim Einsatz in der heutigen Ukraine einen Lungensteckschuss erlitt. Im Jahr 2001 dann hat das Versorgungsamt ihm die Rente aberkannt. Die steht seit einer Gesetzesänderung nicht länger Kriegsverletzten zu, die während des Nationalsozialismus „gegen die Grundsätze der Menschlichkeit“ verstoßen haben – und Walter F. war berüchtigter SS-Wachmann im Konzentrationslager Neuengamme.
Walter F. hat vor dem Hamburger Sozialgericht auf weitere Rentenzahlung geklagt. Das will morgen seine Entscheidung verkünden. Außer Frage steht, dass der Mann seit 1940 Mitglied der SS und von Oktober 1940 bis März 1943 im KZ Neuengamme eingesetzt war. In der Ausstellung „Dienststelle KZ-Neuengamme: Die Lager-SS“ in der heutigen Gedenkstätte ist dem SS-Mann ein Kapitel gewidmet: Dort ist nachzulesen, dass er zunächst als Block- und Kommandoführer, dann als Wachmann im KZ tätig war.
Die Schutzhaftlagerführer waren für die Einhaltung der „Lagerordnung“ zuständig, bewachten die Häftlinge in den Baracken und bei der Zwangsarbeit. Darüber hinaus führten die SS-Männer auch „Sonderaktionen“ durch – die Tötung bestimmter Häftlingsgruppen. Die Wachmannschaften waren bei der Bewachung des Außengeländes eingesetzt. Historisch gilt als belegt, dass Wachleute immer wieder Häftlinge in die Postenkette hineingetrieben haben, um sie „auf der Flucht“ zu erschießen.
Ein solcher Vorfall wird auch Walter F. zur Last gelegt. In den 60er Jahren hat die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt. Damals aber kamen die Ankläger zu dem Schluss, dass die Erschießung von Häftlingen an der Postenkette kein Mord, sondern Totschlag war – und das Delikt war zum Zeitpunkt der Ermittlungen 1967 bereits verjährt.
Auch ein zweiter Vorwurf führte nicht zur Verurteilung von Walter F.: Der SS-Mann soll im September und November 1942 an der Vergasung sowjetischer Kriegsgefangener beteiligt gewesen sein. Die Ermittlungen wurden eingestellt, weil das durch Zeugenaussagen nicht eindeutig nachzuweisen war.
Nach seiner Zeit in Neuengamme kam Walter F. an die Front. 1944 zog er sich die Verletzungen zu, für die er mehr als 50 Jahre lang eine Rente bezog. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes in Kassel steht diese grundsätzlich auch früheren Mitgliedern der Waffen-SS zu. Diesen aber wird durch das Bundesversorgungsgesetz seit 1998 der Anspruch aberkannt, wenn sie gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen haben. Als erster Anhaltspunkt dafür gilt, wenn jemand freiwillig in die Waffen-SS eingetreten war. Zudem muss eine individuelle Schuld nachgewiesen werden.
Prozessentscheidende Frage ist folglich, ob Walter F. damals an den Greueltaten im KZ Neuengamme beteiligt war und ob er sich dieser Beteiligung hätte entziehen können. Er selbst argumentiert gegenüber dem Versorgungsamt, dass er „als jugendlicher Minderjähriger“ nicht freiwillig zur SS gegangen sei. Dass er als Wachmann ins KZ kam, sei sein „persönliches Unglück. Eine Verweigerung hätte ich mit dem Leben bezahlen müssen.“
Die vom Gericht als Gutachterin bestellte Historikerin Christl Wickert kommt zu einem anderen Schluss. Wickert war Kuratorin der SS-Ausstellung in der Gedenkstätte Neuengamme. Bei ihren Recherchen und Zeitzeugeninterviews hat sie festgestellt, dass Walter F. mit 18 Jahren freiwillig zur SS gegangen ist. Und: Die SS-Männer hätten durchaus Entscheidungsspielräume gehabt. Walter F. hätte sich ohne eigene Gefahr an einen anderen Dienstort versetzen lassen können – und sich gegenüber den Häftlingen weit weniger brutal verhalten müssen, als dies von Überlebenden berichtet wird.