: Die Unfassbare
VON LUKAS WALLRAFF
Es gibt Momente, in denen selbst die größten Bewunderer an ihr verzweifeln. In denen ihre Berater und Freunde schulterzuckend sagen: „Das kann sie einfach nicht, das lässt sich wohl kaum ändern. Sie ist halt so.“ Das sagen sie immer dann, wenn Angela Merkel wieder einmal ganz schnell weggerannt ist. Und Angela Merkel rennt oft schnell weg. Ohne auch nur ein klitzekleines Bad in der Menge genommen zu haben. Geschweige denn ein warmes.
Was Gerhard Schröder und Helmut Kohl bei jeder Gelegenheit ausgiebig taten, liegt Merkel fern. Wenn sie heute im Bundestag zur Kanzlerin gewählt wird, geht die Zeit der großen Händeschüttler an der Spitze der Regierung zu Ende. Ihrem Vorgänger Schröder schien Politik erst richtig Spaß zu machen, wenn er auf Marktplätzen das Volk berühren konnte – und zwar in jeder Hinsicht.
Bei Merkel hört der Spaß an der Politik dort auf, wo ihr das Volk zu nahe kommt. Nach nahezu jedem Wahlkampfauftritt rauschte Merkel im Auto davon und ließ von der Jungen Union bis zu den Mütterchen in der ersten Reihe viele enttäuscht zurück. „Schade“, sagte eine treue CDU-Wählerin in Essen. „Na ja, sie hat wohl viel zu tun“, eine Rentnerin in Köln. Die Frauen hätten der Kanzlerkandidatin gern mal die Hand geschüttelt. Doch sie bekamen nur einen Vortrag zu hören, viele Fakten, viele Zahlen um die Ohren gehauen. Und kaum hatten sie die Mehrwertsteuererhöhungserklärungen halbwegs begriffen, war die Kandidatin auch schon wieder fort. Nähe zu wildfremden Menschen vorzuspielen, sei ihr zuwider, sagen Merkels Berater dann: „Sie will sich nicht verstellen.“
Beharrlich unverstellt
Als Merkel vor einiger Zeit einmal vom Chefredakteur der Bild-Zeitung vorgeschlagen wurde, sie könnte einen freundlichen Beitrag über Frauenfußball verfassen (oder vielmehr unter ihrem Namen verfassen lassen), sagte Merkel Nein. Sie interessiere sich nicht für Fußball, warum sollte sie so tun? Die Absage, so wurde aus ihrer Umgebung versichert, hatte nichts damit zu tun, dass Merkel kein Frauenklischee bedienen wollte. Sie hätte auch einen Männerfußballbeitrag abgelehnt. Sie wollte sich einfach nicht verstellen.
Merkel selbst nennt ihre Art zu reden, ihre Art zu kommunizieren und aufzutreten, „ehrlich“. Sie wolle den Menschen nichts versprechen, was sie nicht halten könne. Das hat sie hundertmal, tausendmal gesagt. Natürlich ist das auch ein Trick, eine Strategie, wenn man so will, um Glaubwürdigkeit zu demonstrieren. Aber sie besteht auf dieser Strategie nicht deshalb, weil sie erfolgversprechend ist. Dass Distanziertheit Stimmen kostet, dürfte Merkel schon vor der Wahl gewusst haben. Trotzdem hält sie eisern daran fest – aus nur einem Grund: Es ist die einzige Strategie, die zu ihr passt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis. Sie verzichtet auf das, wonach die meisten Politiker gieren: auf Popularität. Jedenfalls auf Popularität, die leicht zu haben wäre.
Es ist kein Wunder, dass der neue SPD-Chef Matthias Platzeck schon nach wenigen Tagen im Amt in den Beliebtheitswerten vor ihr liegt. Er macht das, wogegen die CDU-Chefin sich beharrlich sperrt. Er ist das Gegenteil von Merkel: locker, lustig, leutselig. Er redet nicht nur dauernd über „die Menschen“, er spricht sie direkt an. Nach der Einigung über den Koalitionsvertrag ging Platzeck vor die Tür, wo die Journalisten und einige Neugierige standen. Gefragt, ob er jetzt zur Feier des historischen Ereignisses eine Flasche Sekt aufmache, sagte Platzeck: „Ich trinke lieber Bier.“ Und grinste. So sammelt man als Sozialdemokrat spielend Sympathien. Die Christdemokratin Merkel spielt nicht. Die Passanten warteten vergebens auf die neue Kanzlerin. Ein Gläschen mit den neuen Partnern? Gerne, aber bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Merkel blieb auch nach der Einigung über den Koalitionsvertrag hinter den Türen der CDU-Zentrale. In ihrem Konrad-Adenauer-Haus. In ihrer Welt. Einer Welt, in der es um die Verteilung der Staatssekretärsposten und die Information der Kreisverbände geht. Nach der Einigung über den Koalitionsvertrag kommt schließlich die Abstimmung auf dem Parteitag. Es gab wieder einmal Wichtigeres zu tun, als den Leuten da draußen vor der Tür Nähe vorzugaukeln. Und als am späten Abend alle wichtigen Dinge erledigt waren, verschwand Merkel durch den Hinterausgang.
Mitunter schroff
Die neue Regierung hat über den Koalitionsvertrag geschrieben, man wolle künftig „Gemeinsam für Deutschland“ arbeiten, und zwar „mit Mut und Menschlichkeit“. Es ist überhaupt kein Wunder, dass bei dem Wort „Mut“ alle an Merkel denken – und bei „Menschlichkeit“ an Platzeck. Das eigentliche Wunder ist, dass Merkel trotz ihrer manchmal schroffen Art heute zur Bundeskanzlerin gewählt wird. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Die Zweifel bleiben ja bis zum Schluss. Dass Merkel im Bundestag genug Stimmen bekommt, scheint immer noch nicht selbstverständlich. Die Spekulationen über möglicherweise ganz viele Gegenstimmen lassen sich nicht damit erklären, dass die Wahl geheim ist. Merkels Gegner in beiden Regierungsfraktionen schüren gezielt Zweifel an ihrer Mehrheitsfähigkeit, um sie zu schwächen – und sei es zum letzten Mal. Eigentlich ist das eine Unverschämtheit, weil alle drei Regierungsparteien der Koalition längst geschlossen zugestimmt haben. Die Abgeordneten haben einen klaren Auftrag, sie zu wählen und keinen Grund, sie nicht zu wählen. Außer Unbehagen.
Das Problem für Merkel ist, dass ihre Nichtwähler trotzdem mit Verständnis rechnen können. Schließlich wurde sie, im Gegensatz zu den langjährigen Ministerpräsidenten und stolzen Bundestagswahlgewinnern Kohl und Schröder, nie direkt und eindeutig vom Volk gekürt. Mit Merkel kommt zum ersten Mal eine Außenseiterin an die Macht. Unverwurzelt in der eigenen Partei, ungeschickt im Umgang mit dem Publikum. Ihre Legitimation muss sie sich erst im Amt erkämpfen. Kein Problem wäre es für Merkel dabei jedoch, wenn sie bei einem schlechten Wahlergebnis heute wieder einmal heruntergeschrieben würde. Das ist sie gewohnt. Seit ihrem Amtsantritt als CDU-Vorsitzende vor fünf Jahren so oft, dass es sie kaum mehr beeindrucken dürfte. Am Ende war es meistens sie, die die anderen beeindruckt hat. Für manche ist ihr Aufstieg zur Kanzlerin immer noch unfassbar. Vor allem für ihre Gegner in der Union. „Wer Merkel unterschätzt, hat schon verloren“ – Horst Seehofers Erkenntnis ist inzwischen fast Allgemeingut. Aber was hat sie, was Müller, Wulff, Koch und vor allem Stoiber nicht haben?
Bereit zum Risiko
Sie kann besser schweigen, wenn es noch nichts zu sagen gibt, weil vorschnelle Äußerungen tragfähige Ergebnisse erschweren. Vor allem aber kann sie besser handeln, wenn der richtige Moment gekommen ist. Diesen zu erkennen: Da war sie bisher immer schneller als die anderen. Als Helmut Kohl im Spendensumpf versank, sah die gesamte CDU wie gebannt zu. Alle warteten ab, ob sich der alte Patriarch würde herauswinden können. Merkel begriff als Erste, dass Kohls Ruf nicht mehr zu retten war – und wagte als Einzige den Absprung. Ohne doppelten Boden. Allein. Mit vollem Risiko, aber mit Erfolg. Sie wurde Parteivorsitzende. Nach diesem Erfolg schwieg sie wieder. Lange. Und die CDU kam zur ersehnten Ruhe. Als Schröder aber seine Agenda 2010 vorgelegt hatte, erkannte Merkel, dass sie nun auch ein eigenes Profil brauchte. Wieder wagte sie Erstaunliches: Kopfpauschale, drastischer Umbau des Sozialstaats – Merkel gab der CDU eine neue Richtung vor.
Bei den Koalitionsverhandlungen hat sie diese Richtung nicht geändert, sie hat sie nur den Möglichkeiten angepasst. Auf ihre Art. Als circa 200 Politiker täglich zu circa 200 Themen öffentlich Stellung bezogen, war von Merkel nichts zu hören. Jedenfalls keine Festlegung. Mehrwertsteuer 1, 2 oder 3 Punkte rauf? „Wir werden uns schon einig werden.“ Atomkraftwerke aus oder doch wieder an? „Wir arbeiten an einer Lösung.“ Selbst als Christian Wulff die mangelnde „Handschrift“ der Union bei den Verhandlungen beklagte, schwieg sie. Jede öffentliche Äußerung hätte eine Einigung erschwert. Jeder inhaltliche Punkt wäre sofort zum „Knackpunkt“, ein Verzicht darauf zum „Gesichtsverlust“ der Kanzlerin stilisiert worden. So ging die Union zwar vieler Forderungen aus dem Wahlkampf verlustig, aber keine Niederlage wurde ihr allein angelastet. Und am Ende stimmten alle zu. Zum reibungslosen Verlauf trug bei, dass sie es verstand, mit den SPD-Größen eine Basis für eine stabile Beziehung aufzubauen. Kein Wort, nicht mal eine Andeutung von Spott, als Franz Müntefering ins Trudeln geriet. Kein Geheimnis, das sie vorzeitig ausgetratscht hätte. Bei der SPD hat sie so Vertrauen gewonnen – bei der Wählerschaft noch nicht. Was die „Koalition der neuen Möglichkeiten“ eigentlich bedeutet, muss sie noch erklären.