IN DER GROSSEN KOALITION VERLIEREN DIE ABGEORDNETEN AN BEDEUTUNG
: Gewissen leicht gemacht

Ein donnernder Vertrauensbeweis der Koalitionsfraktionen ist das Ergebnis nicht, mit dem Angela Merkel ins Amt gewählt wurde. Wenn der neue SPD-Generalsekretär Hubertus Heil es als „sehr, sehr gut“ bezeichnet, dann fragt man sich, was er eigentlich erwartet hatte. Aber das Resultat ist auch kein Beweis für ein instabiles Bündnis, was immer Oppositionspolitiker behaupten mögen. Und ganz bestimmt deutet das Ergebnis nicht darauf hin, dass demnächst im Parlament der informelle Fraktionszwang abgeschafft wird und nur noch das Gewissen der Abgeordneten zählt. Die hohe Zahl der Gegenstimmen für die neue Bundeskanzlerin ist vielmehr ganz unspektakulär. So ist das halt in einer großen Koalition.

Es wird künftig normal sein, dass manche Entscheidungen der Regierung nicht von allen Parlamentariern der Koalitionsfraktionen mitgetragen werden. Na und? Wenn eine Mehrheit stabil genug ist, dann gibt es keinen Anlass, jeden und jede Abgeordnete lockend oder drohend in Reih und Glied zu zwingen. Im Gegenteil: Für die Führungsspitzen ist es durchaus kleidsam, wenn sie darauf verweisen können, dass sogar gewählte Volksvertreter gelegentlich eine eigene Meinung haben dürfen. Die wiederum tun sich mit ihrer Rolle leichter, wenn sie wenigstens bei den Fragen den Rücken gerade machen können, die ihnen wirklich am Herzen liegen. Viele Abgeordnete haben den Druck, den Gerhard Schröder auf sie ausgeübt hat, als demütigend empfunden. Angela Merkel wird das nicht nötig haben. Aber das hat weniger mit demokratischen Prinzipien zu tun als mit den Mehrheitsverhältnissen.

Schon möglich, dass die große Koalition nicht über die gesamte Strecke der Legislaturperiode hinweg hält. Aber falls sie zerbricht, dann nicht an parlamentarischem Widerstand. Eine Entscheidung, die so umstritten ist, dass die große Koalition um ihre Mehrheit bangen muss, ließe sich auch gegen den erwartbaren Protest von Öffentlichkeit und Medien nur schwer durchsetzen. Das Wahlergebnis von Angela Merkel ist kein Hinweis auf das gestiegene Selbstbewusstsein einzelner Abgeordneter. Sondern auf deren schwindende Bedeutung.

BETTINA GAUS