: „Bei den Missbrauchsopfern ist nichts angekommen“
HILFEN Johannes-Wilhelm Rörig will eine andere Gangart wählen, wenn die Bundesregierung ihren eigenen Ansprüchen weiterhin nicht gerecht wird
■ geboren 1959, ist Betriebswirt, Jurist und Ministerialdirigent. Im Dezember 2011 berief die Bundesregierung den zweifachen Vater zum Nachfolger von Christine Bergmann als unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
taz: Herr Rörig, ist der runde Tisch gegen sexuellen Missbrauch gescheitert?
Johannes-Wilhelm Rörig: Der runde Tisch ist nicht gescheitert. Er hat in seinem Abschlussbericht 2011 wegweisende Empfehlungen vorgelegt, etwa das Hilfesystem für Opfer sexueller Gewalt mit 100 Millionen Euro.
Aber davon ist doch bis heute so gut wie nichts umgesetzt!
Es wäre erfreulich, wenn die Verantwortlichen schon weiter wären. Von den beschlossenen Hilfen ist bisher leider nichts bei den Opfern von sexueller Gewalt angekommen. Die Verantwortung dafür liegt beim Bund und bei den Ländern – etwa, um die großen Lücken im Netz der Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern zu schließen. Diese Vorschläge müssen jetzt unbedingt Wirklichkeit werden. Die Zeit drängt, weil die Legislaturperiode abläuft.
Heute wird am runden Tisch Bilanz gezogen. Was ist für Sie jetzt besonders wichtig?
Die Öffentlichkeit und wir müssen aufpassen, dass hohle Erbsen nicht zu goldenen Erbsen erklärt werden und am Ende als glänzende Goldbarren erscheinen.
Was meinen Sie konkret?
Ich bin sehr gespannt, wann der versprochene Hilfefonds an den Start geht. Und ich bin auch gespannt, mit welchem Fahrplan die Justizministerin es zusammen mit der Regierungsmehrheit schaffen will, dass das wichtige Gesetz zum Schutz von Opfern sexualisierter Gewalt noch vor der Wahl beschlossen wird. Sonst wird bis zum Sommer nichts mehr umgesetzt werden.
In manchen Ländern gibt es halbamtliche Untersuchungskommissionen, die in kurzer Zeit glaubwürdige Untersuchungsberichte vorlegten – etwa im Fall des DJs, Moderators und hundertfachen Pädokriminellen Jimmy Savile in Großbritannien. Das bringt zwar keine strafrechtliche Verfolgung mehr, aber gibt den Opfern die Chance, offizielle Anerkennung zu finden. Wieso gibt es solche Untersuchungskommissionen bei uns nicht?
Mein Fachbeirat und ich werden im April ein Hearing dazu durchführen, weil wir so etwas Ähnliches auch für die Bundesrepublik wollen. Wir sind der Überzeugung, dass der Bund für die unabhängige und systematische Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs eine Verantwortung trägt. Deswegen wollen wir die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen.
Sie stehen in engem Kontakt mit den Opfern. Was ist deren Haltung zum lähmenden Stillstand in der Politik?
Da ist eine große Frustration spürbar. Ich erkenne bei den Betroffenen eine tiefe Enttäuschung darüber, dass die Politik sie im Stich lässt.
Haben Sie einmal über Rücktritt nachgedacht?
Ich habe die Aufgabe übernommen, an der Seite der Betroffenen die Umsetzung der Vorschläge des runden Tischs zu unterstützen und auch zu beschleunigen. Ich hoffe nicht, dass die Bundesregierung morgen mit leeren Händen antritt!
Was heißt das?
Es geht letztlich darum, die große Wertschätzung, die die Bundeskanzlerin den Betroffenen sexueller Gewalt gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, jetzt materiell unter Beweis zu stellen. Ich denke darüber nach, die Regierungschefin an ihre mitfühlenden Worte zu erinnern.
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER