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Archiv-Artikel

Demo für ein warmes Bett

Bochumer Obdachlose demonstrieren heute für mehr Toleranz und bessere Schlafstätten. Wohnungslosenhilfe: „Viele Notunterkünfte sind in einem menschenunwürdigen Zustand“

AUS BOCHUM GESA SCHÖLGENS

Der Winter ist die Leidenszeit für Obdachlose. Pünktlich zum Kälteeinbruch in Nordrhein-Westfalen wollen heute Wohnungslose in der Bochumer Innenstadt demonstrieren. Sie fordern nicht nur bessere Schlafmöglichkeiten und länger geöffnete Toiletten, sondern auch, dass die Stadt ihnen leerstehende Häuser zur Renovierung und Nutzung überlässt, und sie nicht mehr von öffentlichen Plätzen vertrieben werden. Erwartet werden 200 Demonstranten.

„Das ist schon etwas Außergewöhnliches, dass Obdachlose so etwas selbst auf die Beine stellen“, sagt Hartmut Bröcker, Referent für Wohnungslosenhilfe bei der Diakonie Rheinland. Schon bald könnte es mehr Demos geben, denn die Selbstorganisation der Nichtsesshaften nimmt in Nordrhein-Westfalen zu. In einzelnen Städten wie Stuttgart oder München seien sie schon länger organisiert. „Zuletzt gab es Anfang der 90er Jahre eine landesweite Kampagnen-Welle für mehr Toleranz“, sagt Thomas Specht-Kittler, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) in Bielefeld. Die neue Tendenz zur Selbstorganisation zeige, „dass es unter den Nichtsesshaften ein steigendes Empfinden von Ungerechtigkeit gibt“. Wohnungslose würden noch immer in vielen Bereichen ausgegrenzt.

Den Obdachlosen leer stehende Häuser zur Verfügung zu stellen, hält Specht-Kittler für sinnvoll: „Man sollte die Selbsthilfe der Betroffenen fördern“. Wichtig sei jedoch, dass solche Projekte von außen betreut werden, sagt Gerlinde Fuisting, Leiterin der Wohnungshilfe Bochum. Die Obdachlosen müssten etwa bei der Renovierung unterstützt werden. „Viele von ihnen sind alkohol- oder drogenabhängig und kennen ihre Grenzen nicht“, so Fuisting. In den zwei Notunterkünften der Inneren Mission in Bochum ist Alkohol- und Drogenkonsum deswegen verboten, auch nachts sind dort zwei BetreuerInnen im Einsatz. Sie sorgen für Deeskalation, Frühstück und frische Bettwäsche.

Ausreichende Betreuung und Ausstattung ist aber die Ausnahme in Notunterkünften. Viele sind in einem menschenunwürdigen Zustand. „Besonders bei den kommunalen Schlafstätten handelt es sich in der Regel um unpersönliche Massenunterkünfte, die abends um sechs aufgeschlossen und morgens um neun wieder abgeschlossen werden“, sagt Bröcker. Häufig gebe es kein qualifiziertes Personal, das für Ordnung sorgt. Gewalt und Diebstähle seien an der Tagesordnung, und die hygienischen Bedingungen desolat. „Deswegen weigern sich viele Obdachlose selbst bei großer Kälte, die Unterkünfte aufzusuchen“, sagt Jan Orlt, Geschäftsführer des Herbergsverbands für Wohnungslose der Diakonie Westfalen. Schwer alkoholabhängige und psychisch Kranke würden meist gar nicht erst aufgenommen.

Laut BAGW könnten das die Gründe sein, warum die Zahl der Wohnungslosen abnimmt, aber immer mehr Menschen „Platte machen“. Derzeit sind in NRW rund 9.000 Menschen obdachlos. Die Statistik erfasst aber nur Wohnungslose, die in kommunalen Einrichtungen untergebracht waren. Seit 2000 ist deren Zahl um rund 3.800 gesunken.

Landesweit werden folglich zunehmend Notunterkünfte geschlossen. Städte und Kommunen bauen statt dessen die ambulante und stationäre Betreuung aus. „Sie haben begriffen, dass mehr qualifizierte Hilfe benötigt wird“, sagt Orlt.