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Archiv-Artikel

Literarische Verkehrskunde

Melancholiebesetzt: 15 Autorinnen haben sich den Ku’damm von oben aus angesehen und den Trubel der Autos und Passanten in einer Textsammlung festgehalten. Was aber ist noch dran, an der Faszination des alten Westberlin?

Dass Schriftsteller gern in den Elfenbeinturm flüchten, ist bekannt. Dass sie auf stillgelegte Verkehrskanzeln steigen, hört man schon seltener. 15 Berliner Autorinnen fanden die Idee wohl gerade wegen dieses Perspektivenwechsels verlockend. Für ein paar Stunden hat jede von ihnen den Schreibtisch mit dem gläsernen Hochsitz getauscht, der verwaist am Ku’damm Ecke Joachimstaler Straße steht. In einem Sammelband, mit dem etwas bemühten Titel „Kanzlerinnen, schwindelfrei – über Berlin“, sind die hier entstandenen Texte nun im Transit-Verlag erschienen.

„Die Poesie unter den wechselnden Vorzeichen des Verkehrs“ heißt ein Aufsatz des großen Städtekenners Friedrich Spielhagen von 1898. Er gibt das Motto vor: Vier Meter über dem großstädtischen Verkehr, wo in den Fünfzigerjahren ein Polizist das Geschehen überwachte, wollten die Autorinnen herausfinden, wie sich Perspektiven verschieben und Gedanken kreuzen, wenn der Blick den Strömen der Autos und Passanten folgt.

Gleich der erste Text, eine dialogische Koproduktion von Ines Geipel und Antje Ràvic Strubel, stellt das Ineinander von Beobachten und Schreiben vor. Versuchsweise wird eine Person aus der Menge mit einer Geschichte bedacht. Doch genauso schnell wie die Fahrgäste in die Busse ein- und wieder aussteigen und wie der Verkehr ihre Richtung ändern, springen beide Autorinnen auch von ihrer Figur ab, steigen auf einen anderen Passanten um und beginnen eine neue Geschichte. Ganz ähnlich schließt Ulrike Draesner ihre Prosaverse mit dem chaotischen Durcheinander der Straße kurz. Eine Assoziation wird angestoßen, fortgesponnen, dann am Ende die Frage gestellt, ob es nicht auch in eine ganz andere Richtung hätte laufen können.

Allerdings läuft es nicht bei allen Texten so gut. Mitunter dient die Verkehrskanzel bloß als beliebige Kulisse für launige Alltagsgeschichten. Ausgerechnet die Initiatorin des Projekts, Corinna Waffender, scheint aus der ungewöhnlichen Schreibsituation wenig Anregung ziehen zu können. Ihre Erzählung „Bleibtreu“ verbleibt im Schema konventioneller Berlinprosa. Dann wieder muss die Kanzel als Metaphernlieferant für poetische Selbstreflexionen herhalten. Sie wird zur „poetischen Kapsel“ oder zum gläsernen Auge, das schwebend über die Wirklichkeit gleitet und bei Anke Wagner sogar noch in eine verdrehte Liebesgeschichte verpackt wird.

Vielleicht liegt es an ihrer Erfahrung mit Stadtbeobachtung, dass Annett Gröschner ohne diese poetische Klippschule auskommt. Sie begibt sich auf die Suche nach dem, was der Ku’damm einmal war. Gröschners Held Konrad Fröhlich ist zuständig für das Ablesen des Zählerstands der strombetriebenen Ampeln, die seit den Sechzigerjahren den Polizisten auf der Verkehrskanzel abgelöst haben. Auf seinem Weg über den Ku’damm erinnert er sich, wie er als Kind mit seiner Mutter von Ostberlin ins Herz der Westwarenwelt fuhr, damit sie im Kranzler für ein paar Stunden die große, weite Welt erleben konnte, während er selbst sich als Städtebewohner vis-à-vis in die Verkehrskanzel wünschte. Weil das aber für immer vergangen und vorbei ist, verwandelt sich der Fröhlich in die Berliner Melancholie.

Tatsächlich zeigt sich an den Texten dieses Bandes vor allem eins: Der Ku’damm hat seine einstige Faszination eingebüßt. Und auch das Aufgebot an technischem und menschlichem Material, das hier täglich aufgefahren wird, kann keinen bleibenden Eindruck mehr hinterlassen. „Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach!“ Das steht nicht im Buch der Kanzlerinnen. Das hat Erich Kästner vor über 70 Jahren geschrieben. Den sollte man lesen, wenn man nicht auch noch melancholisch werden will.

WIEBKE POROMBKA

Corinna Waffender (Hg.): „Kanzlerinnen, schwindelfrei über Berlin“. Transit Berlin 2005, 144 S., 14,80 €