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„Es herrscht ein reger Austausch“

taz-Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 3): Tausende Menschen haben mittlerweile in Berlins besetzten Häusern gewohnt. Die taz traf vier Besetzer, die bis heute in kollektiven Wohnformen leben

„Es gibt eine Solidarität unter den Bewohnern, die inzwischen im Gemäuer steckt“

Armin Meyer, 64, Rentner, besetzte 1981 den „Turm“ am Leuschnerdamm 7 in Kreuzberg: „Im Gegensatz zu den Instandbesetzern, die Verträge abschließen wollten, standen wir für ‚Besetzen als Bewegung‘. Wir haben das kapitalistische System grundsätzlich in Frage gestellt und damit natürlich auch, dass eine Wohnung eine Ware ist, für die man bezahlen muss. Eigentlich war das die Position aller Besetzer. Wir gehörten jedoch zu den wenigen, die das durchgezogen haben, auch als uns ein Nutzungsvertrag angeboten worden ist. Die Konsequenz war, dass der Turm 1984 geräumt worden ist. Der Name kommt daher, dass das Haus, das direkt an der Mauer lag, einen Turm hatte.

Ich war damals schon über 40, und unter den Besetzern einer der Ältesten. Zu uns sind auch Menschen aus den Westplattenbaugebieten Britz-Rudow und dem Märkischen Viertel gekommen, die mit Politik bis dahin nichts zu tun hatten. Manche sind nach der Räumung in Drogen abgerutscht. Von einem weiß ich, dass er Selbstmord begangen hat. Die letzte Zeit im Turm war ziemlich stressig. Wir hatten auch großen Zulauf von Leuten aus Häusern, die geräumt worden waren.

Nach der Räumung haben einige aus dem Turm in Kreuzberg Wohngemeinschaften und autonome Gruppen mit aufgebaut. Wir haben bei allen möglichen Kampagnen mitgemacht, auch an der Kampagne gegen den IWF-Kongress in Berlin 1988.

Nach dem Mauerfall bin ich nach Hohenschönhausen in die Platte gezogen. Allein, weil keiner aus den alten Zusammenhängen mitkommen wollte. Für mich war die Zeit in Kreuzberg abgelaufen. Die Leute trauerten den alten Zeiten nach. Es war keine Lebendigkeit mehr drin. Ich fand es spannender, in Ecken zu gucken, die man nicht kannte.

Bis ich 60 geworden bin, habe ich als Taxifahrer gearbeitet. Das war 2001. Seither bin ich auf Rente. Im Jahr drauf bin ich nach Niederfinow in Brandenburg gezogen. Die Nutzungskosten für das Haus am Dorfrand werden anteilig von mehrere Leuten gezahlt, darunter noch zwei aus dem „Turm“. Ich bin aber der Einzige, der hier fest wohnt. Meine Devise ist: Lieber locker kollektiv wohnen als allein. Es gab mal einen ganz anderen Plan. Wir wollten ein Projekt namens „Stadt, Land, Fluss“ gründen. Die Idee war, dass die Leute je nach Lust und Laune zwischen Berlin und Brandenburg hin und her pendeln können. Es gab viele Interessierte. Wir hatten uns auch schon Objekte angeguckt. Innerhalb dieses Projekts hätte ich gern ein „autonomes Altenprojekt“ aufgemacht. Aber leider ist das Ganze nicht zustande gekommen.

Zeitgleich haben wir Geld gesammelt und eine Stiftung gegründet: Stiftung dissidente Subsistenz, kurz SDS. Das Konzept ist, Leute zu fördern, die utopische und absurde Ideen haben, aber kein Geld, sie auszuprobieren. Unsere Erfahrung mit den besetzten Häusern war doch die: Es sind immer die Leute dort wohnen geblieben, die am solididesten und am angepasstesten waren. Die Stiftung will die Experimentierer unterstützen.

Ein ganz aktuelles Beispiel: wir überlegen, ob wir ein Projekt „nichtkommerzielle Landwirtschaft“ unterstützen wollen. Neben dem Anbau für den eigenen Verbrauch will eine Gruppe von Leuten Kartoffeln und Zwiebeln anbauen – aber nicht für den Markt, sondern um sie zu verschenken! So was finde ich toll … und hoffentlich realisierbar.

Von meinen alten Ideen und Träumen habe ich eigentlich keine Abstriche gemacht. Ich versuche weiterhin, gegen die herrschenden Verhältnisse zu kämpfen, unsere Kampagne gegen den G-8-Gipfel ist ein Beispiel von vielen. Aber ich nehme mir auch mal eine Auszeit.

Gerade war ich siebzig Tage in China. Auch hier im Haus ziehe ich mich gern mal zurück. Das war schon in der Zeit im Turm so. Auch da habe ich von Anfang an gesagt: Ich benötige mein eigenes Zimmer. Die Jungen haben das immer akzeptiert. Insgesamt geht es mir so, dass ich nicht mehr so viel Verantwortung übernehmen möchte wie früher. Lieber möchte ich die Jungen begleiten.

Den Rest meiner Tage stelle ich mir so vor, dass ich mein Leben langsam und in Ruhe ausklingen lasse – aber nicht einsam und verbittert, sondern unterstützt von den Jungen.“

Nina Freund, 37, Köchin, besetzte 1990 die Jessnerstraße 40 in Friedrichshain: „Ich habe die ‚Jessi‘ mit Studenten aus dem Westen besetzt. Als gebürtige Koreanerin habe ich den Osten als dunkel und bedrohlich erlebt. Das Haus war vollkommen verwahrlost. Es war eine spannende, extrem chaotische aber unheimlich wichtige Zeit für mich.

Die Räumung der Mainzer Straße war für uns alle ein Schock. Bei mir hatte das erhebliche Konsequenzen. Mein Hormonhaushalt kam so durcheinander, dass ich zu einem Zeitpunkt schwanger geworden bin, als ich es überhaupt nicht erwartet habe. Das ist auch anderen Frauen passiert. In dieser Zeit sind mehrere ‚Katastrophenkinder‘ entstanden.

In der ‚Jessi‘ war ich zunächst die Einzige mit Kind. Schön war das nicht. Damals war da eine richtig kinderfeindliche Atmosphäre. Ich konnte keine Milch im Kühlschrank lassen. Alles wurde weggetrunken. Selbst, wenn ich ein Schild drangemacht habe. Mittlerweile gibt es auch in der Jessi eine Kinderlobby.

„Wir kommen in das Alter, wo man dieFolgen des alternativen Lebens merkt“

Ich bin dann in die Kastanienallee 77 gezogen – auch ein besetztes Haus, aber der Kontrast war enorm. Die Jessi war ziemlich punkig. In der K 77 war das Leben besser organisiert. Die Gruppe war homogener, die Leute waren irgendwie friedlicher. Das kam meinen Bedürfnissen näher. Seit 1999 lebe ich in Italien in einer Landkommune mit elf Erwachsenen und fünf Kindern. Zum Projekt ‚Torri Superiore‘ gehört ein Gästehausbetrieb und Landwirtschaft. Wir bieten auch Yogakurse an. Ich bin hier die Köchin. Mit meiner Familie habe ich nie allein gewohnt. Die kollektive Wohnform entspricht mir am Besten. Am wichtigsten ist, dass mir die Leute sympathisch sind.

Wenn ich in Berlin bin, treffe ich viele Freunde aus der alten Zeit. Die meisten schlagen sich mit den gleichen Problemen herum. Langsam kommen wir in das Alter, wo man merkt, was für Folgen es hat, wenn man Zeit seines Leben ins alternativen Zusammenhängen zugebracht hat. Allmählich spürt man die Konsequenzen im Unterschied zu ‚normalen‘ Biografien. Man ist nicht so abgesichert, hat zugunsten von Kulturarbeit oder politischer Betätigung auf eine Karriere verzichtet. Besonders ich mit drei Kindern hatte manchmal das Gefühl, dass ich den Anschluss verpasst habe – jetzt aber nicht mehr. Nicht weil ich den Anschluss bekommen hätte. Meine Einstellung hat sich geändert. Ich stehe dazu, dass ich mich bewusst für dieses Leben – mit allen Konsequenzen – entschieden habe.“

Helmut von Arentsschild, 51, Werkstättenleiter an der Schaubühne, besetzte 1981 die Potsdamer Straße 130 in Schöneberg: „Ich wollte was erleben. Eine gewisse Empörung über den Leerstand war auch dabei. Aber hauptsächlich war es Abenteuerlust. Die ist gut befriedigt worden. Zu Besetzerzeiten war ja ne Menge los. Man hat spannende Menschen kennen gelernt, viele Konfikte bewältigt, ist an menschlichen und technischen Problemen gereift.

Ich hatte schon in einer Wohngemeinschaft gewohnt, bevor wir die Potsdamer Straße 130 besetzt haben. Bei der WG ist es bis heute geblieben. Ich habe 25 Jahre, die Häfte meines Lebens, in diesem Projekt verbracht und extrem unterschiedliche Phasen erlebt. Von tiefster Depression bis zu höchsten Glücksgefühlen. Das kann man nicht nur an diesem Haus festmachen. Aber ich glaube, dass es hier mehr zu erleben gab, als ich als Mieter in einem normalen Haus erlebt hätte.

Meine Kollegen und Bekannten leben fast ausnahmslos allein oder mit Partner in einer Kleinfamilie. Wohngemeinschaften sind in meinem Umfeld extrem aus der Mode gekommen. In unserem Haus gibt es eine Solidarität unter den Bewohnern, die inzwischen in den Gemäuern steckt. Das Gemeinschaftsgefühl hat die Fluktuation unter den Bewohnern überlebt.

Die anderen Besonderheiten sind mehr organisatorischer Natur: Die Wohnungstüren sind offen, nur die Haustür ist abgeschlossen. Es herrscht ein reger Austausch unter den Wohnungen, man lädt sich zum Essen ein, kocht gemeinsam. In dem Haus leben 22 Erwachsene und neun Kinder. Die Kosten für Pacht und Bewirtschaftung sind nach wie vor einkommensabhängig auf alle verteilt. Die Kinderzimmer werden nach wie vor subventioniert. Einmal im Monat ist Plenum. Wir sind stolz darauf, dass wir in 25 Jahren alle Konflikte per Diskussion bewältigt haben. Dass es nie zu einem richtig ernsthaften Streit gekommen ist.

Viele Leute sind ausgezogen, um die es sehr schade ist. Aber das ist der Lauf der Dinge. Ich habe auch immer wieder Momente, in denen ich mein Wohnen hier in Frage stelle. Normalerweise zugunsten eines Zusammenwohnens mit meiner Freundin und ihren Kinder. Ich habe immer ein bisschen schlechtes Gewissen, wenn das Leben allzu kontinuierlich verläuft. Auch wenn sie geringer geworden ist: Ich verspüre immer noch ein wenig Abenteuerlust, woanders noch mal was Neues anzufangen.“

Grit Angermann, 40, Bassistin und Sozialarbeiterin, besetzte 1990 die Kreutzigerstraße 18 in Friedrichshain: „Ich komme aus dem Osten. Schon als ich 15 war, war mein Traum, in einer WG oder einer Hausgemeinschaft zu wohnen. Das ging in Weimar natürlich nicht. 1984 bin ich über Kassel nach Westberlin ausgereist. Drei Jahre später wurde ich schwanger. So jung als Paar allein mit Kind in einer Wohnung – da kriegste irgendwann ne Macke. Ich habe damals in einem ehemals besetzten Haus in der Manteuffelstraße in Kreuzberg angefragt. Die fanden Pärchen mit Kindern aber schrecklich. Auch in anderen Häusern habe ich mich umgehört. Aber die waren mir entweder zu Hardcore oder zu intellektuell und pc-mäßig.

Dann kam die Wende. Kurz vorher hatte ich mein zweites Kind bekommen. Ich spiele Bass in einer Frauenband. Unsere Schlagzeugerin hat in Ostberlin ein Haus besetzt. Die hat mir erzählt, dass es einen Besetzerrat gibt, der Listen von leer stehenden Häusern verteilt.

Irgendwann habe ich von der Kreutzigerstraße in Friedrichshain gehört. Die Häuser dort waren zwar extrem kaputt, aber ich fand sie total Klasse. Das war ein richtiger Arbeiterbezirk, dazu noch der Friedhof dahinter.

„Bei Streit geht man sich nicht so schnell auf die Ketten wie in einer Dreier-WG“

Die richtigen Leute zu finden war ein bisschen schwierig. Meine Wessi-Freunde wollten nicht in den Osten, und die, die früher aus dem Osten rüber waren, wollten nicht wieder zurück. Freunde aus Weimar, Leute aus der Schule für Erwachsenenbildung und Eltern vom Kinderladen haben schließlich den Kern der Gruppe gebildet. Super war, dass alle extrem kinderlieb waren. Dadurch dass wir Westgeld günstig getauscht haben, haben wir extrem gut gelebt. Nur so konnten wir auch die Reparatur der Fenster bezahlen, die auf der Seite zum Hof alle kaputt waren.

Heute wohnen in dem Haus zwanzig Erwachsene und fünf Kinder, der Jüngste ist zwei Jahr alt, die Älteste 49. Wir sind ein ziemlich unterschiedlicher Haufen. Der Dreh- und Angelpunkt ist unsere Gemeinschaftsküche. So etwas kann man nur in so einem Haus machen. Einmal gab es einen Versuch von Pärchen, die erst hier Kinder gekriegt haben, sich küchenmäßig zu separieren. Das hat zu sehr viel Stress geführt. Alle Klärungsversuche führten zu nichts. Am Ende sind sie ausgezogen. Der Sauberkeitslevel ist natürlich verschieden. Der eine macht den Küchendienst besser, der andere schlechter. Die Regel ist, dass jeder ungefähr einmal im Monat kocht.

Unser Hauseigentümer ist eine Genossenschaft. Wir sind Mieter. Jeder Erwachsene zahlt 180 Euro, die Kindermiete ist subventioniert. Je nach Zimmergröße zahlt man pro Kind 50 oder 75 Euro.

Von unserer Grundüberzeugung her sind wir alle politisch. Wir kaufen beim Biobäcker und trinken fair gehandelten Kaffee. Einige sind sehr engagiert, zum Bespiel in der Antifa-Arbeit, andere leben das mehr im Alltag. Das Gute an den vielen Leuten ist, es verläuft sich. Wenn man Streit hat, geht man sich nicht so schnell auf die Ketten wie in einer Dreier-WG. Fünfzehn Jahre – so lange habe ich in meinem Leben noch nie irgendwo gewohnt. Hier ausziehen? Kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen.“ Protokolle: Plutonia Plarre

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