: Silben wie dunkle Säcke
„Sehen Sie mir zu, wie ich verschwinde“: Die französische Schauspielerin Isabelle Huppert gastiert bei den Berliner Festspielen – in Sarah Kanes Stück „4.48 Psychose“, das Claude Régy inszeniert hat
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Den Herzschlag verlangsamen. Das Blut zum Stillstand bringen. Die Kälte kommen lassen. Man sieht, nein, man glaubt zu sehen, wie diese helle Haut noch eine Spur blasser wird und durchsichtiger und zugleich schon die Starrheit des Todes nach den Zügen greift. So steht Isabelle Huppert am Ende von Sarah Kanes „4.48 Psychose“ vor uns, erschöpft bis zum Rand des Nichtmehrseins durch den vorausgegangenen Exzess der Sprache. Und doch auch aus eigenem Willen auf diesen Punkt des Endes zugesteuert. Es hat ihr keiner beim Leben geholfen, es hilft ihr keiner beim Sterben.
Wenn die Aufführung zu Ende ist, die Claude Régy 2002 für das Théâtre des Bouffes du Nord in Paris eingerichtet hat, ist man erst mal damit beschäftigt, die physische und psychische Leistung der Schauspielerin Isabelle Huppert zu bewundern. Sicher auch, weil die fremde Sprache, der Text auf Französisch bei dem Gastspiel in Deutschland einen Abstand erzeugen und mit Verzögerung ankommen. Vor allem aber, weil die Inszenierung der Schauspielerin eine Präsenz auferlegt, die jedes Maß übersteigt.
„Sehen Sie mir zu, wie ich verschwinde“, richtet sie ihre Worte am Schluss an das Publikum, und das tut man schon fast zwei Stunden lang. Ihr Körper ist die ganze Zeit fast in Bewegungslosigkeit festgehalten, die Füße stehen wie festgenagelt, gerade die Finger bewegen sich mal und das Gesicht. Nicht einen einzigen Schritt darf sie ausweichen. Sie steht vorne auf der leeren Bühne. So erbarmungslos die Figur unseren Blicken ausgesetzt ist, so erbarmungslos klar sieht sie sich selbst dabei zu, wie sie sich zwischen psychotischen Schüben und pharmazeutischer Ruhigstellung verloren geht. Je schärfer ihr Verstand die Situation erfasst, desto weniger Hoffnung bleibt ihr.
Die Autorin Sarah Kane, die die Uraufführung von „4.48 Psychose“ nicht mehr erlebt hat, weil sie sich selbst vorher umbrachte, hat mit diesem schmerzhaften Text etwas in die Welt geschleudert, was die Theater nicht mehr loslässt. Dennoch kam man zu diesem französischen Gastspiel in das Haus der Berliner Festspiele wohl weniger Sarah Kanes wegen als vor allem, um Isabelle Huppert zu Füßen zu liegen. Man zählt sich im Foyer auf, an welche großartigen Filme und komplizierten Frauenfiguren man sich erinnert, „Madame Bovary“ und „Die Klavierspielerin“ zum Beispiel. Die Festspiele versuchten, den Appetit der Medien auf den Star zu kanalisieren und luden zu einem einzigen Gespräch am Tag der Aufführung mit ihr und dem Regisseur Claude Régy ein – und bitte nur Fragen zum Theater und keine zum Film. Tatsächlich muss man vieles, was man auf der Leinwand selbst ihren Mörderinnen entgegenbringen möchte, hier vergessen. Die Anteilnahme an dieser kleinen, zähen, einsamen und so zerbrechlichen Figur da vorne ist viel anstrengender.
Es ist der Umgang mit der Sprache, dem physischen Volumen und der Form der Worte, den man sich auch als Zuschauer erst mal erarbeiten muss. Die Sprache ist der Körper, auf den sie mit ihrer Zunge einprügelt und den sie mit dünnen Lippen exekutiert. Wie sie einzelne Silben vorführt, als wären sie ein dunkler Sack. Das „o“ in „honte“ (Scham) zum Beispiel: Man spürt seine Neigung, sich über sie zu stülpen, und auch ihre Gegenwehr. Die Sprache ist alles, was sie noch hat, und doch auch der Lieferant der Waffen, die sie gegen sich richtet. Die Sprache ist ihr letzter Gegner. Dass sonst nichts geblieben ist, an dem sie sich reibt, ist das Härteste.
Der Regisseur Claude Régy, geboren 1923, hat sich seit den 60er Jahren der zeitgenössischen Dramatik verschrieben. Unter seinem Zugriff wird aus Sarah Kanes „4.48 Psychose“ mehr als die Verzweiflung einer jungen Frau, die sich, unglücklich verliebt, in großer Verlassenheit und pubertärem Größenwahn gleich mit Gott und dem Nichts anlegt. Régy interessiert mehr die ungewöhnliche Sprachkritik, wie sich das Denken selbst belauert, den Haken in jeder Formulierung entdeckt und alle Auswege zumauert. Deshalb übergeht er die dialogischen Möglichkeiten des Textes weitgehend, um alles auf den Schauplatz in einem Subjekt zu verlegen. Seine Ästhetik ist radikal und minimalistisch und auch sehr selbstgewiss. Er reiht Sarah Kane unter die heiligen Monster. Der Kunst soll man zu Füßen liegen, nicht der Schauspielerin.